Vor einem halben Jahr wurde der syrische Langzeitmachthaber Baschar al-Assad gestürzt: Ist Syriens Alptraum vorbei oder fängt ein neuer an? Ein Land in der Findungsphase.

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Vor sechs Monaten ist das bis dahin scheinbar Unerreichbare passiert: Syriens Langzeitmachthaber Baschar al-Assad wurde nach Jahren des brutalen Bürgerkriegs gestürzt. Mehr als 50 Jahre autoritärer Herrschaft der Assad-Familie gingen zu Ende. Zurück blieb eine tief gespaltene Gesellschaft, viel Schmerz und Misstrauen - doch zugleich gab es einen Funken der Hoffnung auf einen Neustart.

Mittlerweile wird das Land mit rund 23 Millionen Einwohnern von einer Übergangsregierung unter der Führung von Interimspräsident Ahmed al-Scharaa geführt. Al-Scharaa war der Kopf der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die die Rebellenallianz anführte, die Assad schlussendlich am 8. Dezember stürzte. Die neue Regierung versprach nach ihrem Antritt ein "Syrien für alle". Doch ist sie dem bislang gerecht geworden?

Minderheiten unter Druck: Angst und Verunsicherung

International werden vor allem Umgang mit und Schutz von Minderheiten im neuen Syrien kritisch verfolgt. Die Mehrheit der Syrerinnen und Syrer sind wie al-Scharaa und seine Gefährten sunnitische Muslime. Doch wiederkehrende Ausbrüche teils konfessioneller Gewalt in den vergangenen Monaten haben Ängste etwa bei Drusen, Alawiten oder Christen geschürt.

Erst Anfang Mai griffen der Übergangsregierung nahestehende sunnitische Kämpfer Mitglieder der drusischen Gemeinschaft an. Bei den Auseinandersetzungen wurden Dutzende Menschen getötet. Davor war es bereits im März laut Beobachtern zu "Massakern" im Küstengebiet gekommen: Die Übergangsregierung reagierte dabei mit einer Militäroperation auf Angriffe von Assad-Anhängern. Bei den Kämpfen wurden Hunderte Angehörige der Minderheit der Alawiten getötet, der auch Assad angehört.

Drusenführer: Syrien könne nur geeint wieder aufgebaut werden

"Es herrscht Angst, nicht nur in der drusischen Gemeinschaft, auch bei anderen Minderheiten", sagt der Drusen-Scheich Hammud al-Hinawi, einer der führenden Oberhäupter der drusischen Religionsgemeinschaft, der Deutschen Presse-Agentur. "Wenn wir nicht lernen, einander zu akzeptieren, unabhängig von unserer Religion, können wir niemals eine Nation aufbauen", so al-Hinawi.

Denn genau das hatte Übergangspräsident al-Scharaa der Bevölkerung bei seiner Machtübernahme versprochen: ein geeintes Syrien. "Man muss sich aber immer vor Augen halten, dass Syrien vom alten Regime gespalten wurde", betont der Drusenführer. Nur "Hand in Hand" und ohne Extremismus von jeglicher Seite könne ein geeintes Land aufgebaut werden.

Dazu zählen auch die Kurden im Nordosten des Landes, die bisher autonom über ihr Gebiet herrschten. Ein Schritt in Richtung Einheit Syriens war die Einigung der Kurden mit der Übergangsregierung auf die vollständige Eingliederung in die staatlichen Institutionen. Al-Scharaas Regierung soll damit die Kontrolle über zivile und militärische Einrichtungen im Nordosten des Landes erlangen. Wichtige Details des Abkommens blieben dabei aber bisher ungeklärt.

"Wir sind wie andere Gemeinschaften besorgt, aber wir werden sehen, ob die neuen Herrscher ihre Versprechen halten und jedem Syrer - unabhängig von seiner Herkunft - sein Heimatland zurückgeben werden", heisst es aus kurdischen Kreisen.

Zurück auf der internationalen Bühne

Auch international hat sich die neue Führung in Damaskus zum Ziel gesetzt, mit den Hinterlassenschaften der Assad-Regierung aufzuräumen und sucht nach internationaler Anerkennung und Beziehungen mit dem Ausland. Assad wurde mit Ausbruch des Bürgerkriegs stark isoliert, die Regierung mit harten Sanktionen belegt.

Der Konflikt hatte 2011 mit Protesten gegen die Regierung begonnen, die brutal niedergeschlagen wurden. Daraus entwickelte sich ein Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung. Rund 14 Millionen Menschen wurden vertrieben. Nach UN-Schätzungen kamen mehr als 300.000 Zivilisten ums Leben.

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Rund sechs Monate nach dem Sturz Assads hat sein Nachfolger al-Scharaa - ehemaliger Rebellenanführer und Ex-Mitglied der Terrororganisation Al-Kaida - bereits die Hände einiger der wichtigsten Staatsoberhäupter der Welt geschüttelt, darunter US-Präsident Donald Trump. In der EU wurde er von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfangen. Im September will er bei der UN-Generaldebatte in New York eine Rede halten.

Anbindung an den internationalen Zahlungsverkehr

Insbesondere beim Thema Sanktionen konnte die Führung in Damaskus zuletzt grosse Gewinne für sich verbuchen: Menschen in ganz Syrien feierten auf den Strassen, als Trump Mitte Mai überraschend die Aufhebung aller US-Sanktionen gegen das Land verkündete. Die EU folgte nur wenige Tage später. Ein weiterer "historischer Schritt" im neuen Syrien, verlautete es aus dem Aussenministerium.

Während des Kriegs waren sämtliche Waren - von Medizin bis Treibstoff - Mangelware. Importe aus dem Ausland waren aufgrund der Sanktionen kaum möglich. Das Land war ihretwegen zudem weitgehend vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen. Geldtransfers in und aus dem Land waren praktisch unmöglich. Beobachtern zufolge bedeutet eine Aufhebung der Sanktionen, dass langfristig die Preise im Land wieder sinken und dringend benötigte Gelder für den Wiederaufbau aus dem Ausland ins Land fliessen können.

90 Prozent noch immer auf Hilfe angewiesen

Von Stabilität ist Syrien dennoch auch sechs Monate nach dem Umsturz noch weit entfernt. Nach UN-Angaben von April sind immerhin bereits rund 400.000 Syrerinnen und Syrer aus den Nachbarländern sowie mehr als eine Million Binnenvertriebene innerhalb Syriens in ihre Heimat zurückgekehrt. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sind in den ersten Monaten des Jahres 464 Geflüchtete aus Syrien freiwillig aus Deutschland zurückgekehrt.

Doch immer noch benötigen nach UN-Angaben rund 90 Prozent der Bevölkerung eine Form von humanitärer Hilfe - nach Jahren des Kriegs lebt der grösste Teil der Bevölkerung in Armut. Syrer selbst sagen, es gebe Tage, da zweifelten sie am neuen Syrien - aber genauso gebe es Tage, an denen sie daran glaubten, dass man sich Schritt für Schritt in die richtige Richtung bewege. Die Hoffnung lebe weiter, sagen sie. (dpa/bearbeitet von lla)