Mit dem Rücktritt von Ministerpräsident Lecornu geht das politische Chaos in Frankreich in die nächste Runde. Einigungen zwischen den Parteien scheinen unmöglich und Präsident Emmanuel Macron besteht auf seiner Position. Es gibt keine Mehrheit, deshalb wird sogar eine Allianz der Rechten und Rechtsnationalen diskutiert.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Tanja Kuchenbecker sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Sébastien Lecornu ist noch nicht einmal seit einem Monat im Amt und nimmt trotzdem schon den Hut. Damit hat Lecornu den Rekord des Premierministers aufgestellt, der am kürzesten im Amt war. Frankreich scheint unregierbar. Schon Lecornus Vorgänger François Bayrou und Michel Barnier waren an der Aufgabe verzweifelt.

Erst am Sonntagabend hatte Lecornu die neue französische Regierung verkündet, doch sie entsprach fast der alten. Das sorgte überall für Kritik. Mehrere Oppositionsparteien kündigten Misstrauensanträge an. Etwa das rechtsnationale Rassemblement National (RN) und die Linken von LFI (La France Insoumise).

Um einem Sturz durch einen solchen Misstrauensantrag zu entgehen – und angesichts des Drucks von allen Seiten –, trat Lecornu schnell zurück. Sein Vorgänger Bayrou, von dem man seit seinem Sturz vor einem Monat wenig gehört hat, kritisierte, dass "die politischen Kräfte sich weigern, das Ausmass der schwierigen Situation zu sehen".

Seine Beschreibung klingt dabei fast wie eine Untertreibung. Die Nationalversammlung ist völlig zersplittert. Mehrheiten zu finden, scheint unmöglich, Einigungen mit den Oppositionsparteien scheitern immer wieder. In der Nationalversammlung stehen sich drei nahezu unversöhnliche Blöcke gegenüber: die Linken, Macrons Mitte und die Rechtsnationalen.

Von der Opposition werden nun Rufe nach Neuwahlen laut. Doch von denen würden vermutlich vor allem die politischen Ränder profitieren. Bisher hat Macron Neuwahlen deshalb auch ausgeschlossen. Die Frage ist, ob er inzwischen überhaupt noch eine Wahl hat, nachdem auch sein dritter Versuch, einen im nahestehenden Premierminister zu etablieren, fehlgeschlagen ist.

Wie lässt sich das Chaos in Paris managen?

Macron hat kaum noch Spielraum. Er muss die Situation retten und erklären, was er mit seiner Amtszeit noch vorhat. Er müsste eine neue Regierung finden – die neunte seiner Amtszeit. Ob die weiter kommt als die Vorgängerregierung, ist fraglich.

Denn alle Fraktionen in der Nationalversammlung verharren auf ihrer Position. Vor allem gilt das aber für Macron, der vehement seine Vorstellungen mit seinen Vertrauten in der Regierung durchdrücken will. Einen Rücktritt schloss er bisher immer aus, er hat nur noch anderthalb Jahre seiner zweiten Amtszeit bis 2027. Nach zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten ist er nicht mehr wählbar.

Koalitionsverhandlungen wie in Deutschland gehörten bisher nicht zum Alltag in Frankreich. Auch wenn der Präsident in Frankreich eine herausragende Stellung einnimmt, ist es üblich, dass die Mehrheit in der Nationalversammlung den Premierminister und die Regierung stellt – aber der Präsident ernennt den Premierminister.

Früher gab es entweder rechts oder links, die konservativen Republikaner und die Sozialisten, die sich bei der Präsidentschaft und im Parlament ablösten. Meist hatte die Partei des Präsidenten auch die Mehrheit im Parlament. Doch die beiden ehemaligen grossen Volksparteien sind offenbar kaum mehr gefragt.

Ursprung der Probleme ist die Weigerung Macrons, nach der Auflösung der Nationalversammlung 2024 einem der grossen Blöcke, den Linken oder Rechtsnationalen, die Regierung zu überlassen. Er weigerte sich mit der Begründung, keiner der beiden Blöcke komme auf eine eindeutige Mehrheit. Deshalb versuchte er innerhalb der Mitte Kompromisse mit den Konservativen und Sozialisten zu finden. Das Ergebnis ist das aktuelle Chaos.

Krise in Frankreich eskaliert: Macron massiv unter Druck

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Nach nur vier Wochen im Amt hat Premier Lecornu hingeworfen. Die politische Krise in Paris spitzt sich damit weiter zu. Stürzt nun auch Präsident Macron?

Drei Möglichkeiten

Doch was macht Macron nun? Will er einfach so weitermachen? Spielt er auf Zeit?

Er steht jedenfalls erneut allein da. Guillaume Daret, politischer Kommentar des Fernsehsenders BFMTV, sagte: "Niemand hat mehr Interesse an der politischen Mitte von Macron." Viele Alternativen gibt es nicht. Die erste wäre: Macron könnte einfach einen neuen Premierminister ernennen und darauf hoffen, dass die anderen Parteien einlenken, entweder die Sozialisten oder die Rechtsnationalen, schreibt "Le Monde".

Der zweite Weg wäre eine neue Auflösung der Nationalversammlung. Das ist seit Juli möglich, ein Jahr nach der Auflösung 2024. Die dritte wäre der Rücktritt des Präsidenten. Das ist der Weg, der in der öffentlichen Debatte immer mehr Gewicht einnimmt.

Zur Regierungskrise erklärt Frankreich-Experte Thomas Gillet, Direktor für den öffentlichen Bereich bei der europäischen Rating-Agentur Scope Ratings, auf Nachfrage unserer Redaktion: "Der Rücktritt von Premierminister Lecornu reflektiert Frankreichs zunehmende politische Instabilität und steigert das Risiko eines politischen Stillstands weiter."

Die Unfähigkeit, ein Budget durchzubringen und Reformen durchzusetzen, verdüstere Frankreichs wirtschaftlichen Ausblick, so Gillet. Steuerreformen rückten in weite Ferne. "Präsident Macron steht nun vor wenigen Optionen: einen neuen Premierminister ernennen, um nochmal Koalitionsverhandlungen zu versuchen oder Neuwahlen auszurufen."

Empfehlungen der Redaktion

Im Hintergrund formieren sich die Parteien neu. Die Linken wollen sich zu Beratungen treffen und es werden auch Stimmen laut, die eine Einigung der Rechten und Rechtsnationalen als Lösung sehen. Jean-Luc Mélenchon, Gründer der LFI will mal wieder die Linke um sich versammeln. Und Marion Maréchal, Nichte von Marine Le Pen, setzt sich schon seit Jahren für eine "Koalition der Rechten" ein. Sie sagte im Fernsehsender BFMTV nach dem Rücktritt von Lecornu, sie sei "bereit, beim Dialog" zu helfen.

Sollte es dazu kommen, wären eine Mehrheit in der Nationalversammlung und ein Rechtsruck in Frankreich durchaus möglich. Zumindest, wenn es Neuwahlen geben sollte.

Über den Gesprächspartner

  • Thomas Gillet ist Analyst bei der Europäischen Rating-Agentur Scope Ratings. Er ist für Frankreichs Rating zuständig. Der Ökonom arbeitete auch schon für das französische Schatzamt.

Verwendete Quellen