Der Auftakt der Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen durch eine neue Stiftung verlief chaotisch – es fielen sogar tödliche Schüsse. Daher kommt es bei der Aktion zu Verzögerungen.

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Ein tödlicher Vorfall beim Auftakt der Verteilung von Hilfsgütern im südlichen Gazastreifen durch eine neue Stiftung hat zu Verzögerungen bei der weiteren Auslieferung geführt. Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros wurden dort am Dienstag eine Person getötet und 47 weitere verletzt. Laut den vorliegenden Informationen habe das israelische Militär Schüsse abgegeben, sagte UN-Menschenrechtssprecherin Ravina Shamdasani der Deutschen Presse-Agentur.

Die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) schrieb in einer Mitteilung an die Einwohner des Küstenstreifens, Hintergrund der Verzögerung seien Unruhen und die Nichteinhaltung von Regeln durch einige Personen. Man arbeite daran, einen sicheren Ablauf der weiteren Verteilung zu gewährleisten. In den kommenden Stunden solle eine Mitteilung über die neuen Verteilungszeiten veröffentlicht werden. Ausserdem sollten zwei weitere Verteilzentren in Betrieb genommen werden.

Nach einem Aufruf hatten sich bereits zahlreiche Palästinenser zu einem Verteilungszentrum in Rafah im Süden des Gazastreifens begeben, um dort Lebensmittelpakete in Empfang zu nehmen.

Nahostkonflikt - Rafah
Palästinenser mit Hilfsgütern. © dpa / Ahmed Ibrahim/APA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Chaotische Szenen bei Verteilzentrum

Die neu gegründete Stiftung GHF hatte am Dienstag in Rafah ein Verteilzentrum für Hilfsgüter eröffnet. Israelischen Medienberichten und Augenzeugen zufolge kam es zu chaotischen Szenen. Es war von der Stürmung des Verteilzentrums und Plünderungen die Rede. Die israelische Armee teilte mit, Soldaten hätten ausserhalb des Zentrums Warnschüsse abgegeben.

Israelische Medien hatten zunächst berichtet, US-Wachleute hätten Warnschüsse abgegeben. Später berichteten palästinensische Rettungskräfte, drei Menschen seien durch Schüsse der israelischen Armee getötet und Dutzende weitere verletzt worden.

Stiftung beklagt Behinderungen durch Hamas

Angesichts einer monatelangen Blockade von Hilfsgütern durch Israel, die zuletzt etwas gelockert worden war, hat sich die verzweifelte Lage vieler Menschen in dem umkämpften Küstenstreifen nochmals verschlimmert. In dem von rund zwei Millionen Palästinensern besiedelten Gebiet, das zu weiten Teilen zerstört ist, fehlt es an Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Medikamenten und nahezu allen Dingen des täglichen Bedarfs.

Die GHF soll nach dem Willen der israelischen Regierung künftig für die Verteilung der Hilfsgüter zuständig sein. Bisher seien rund 8.000 Lebensmittelpakete verteilt worden, teilte die Stiftung am Dienstag mit. Jedes Paket könne etwa fünf bis sechs Menschen für dreieinhalb Tage ernähren. Insgesamt seien es 462.000 Mahlzeiten. Allerdings sei es wegen Behinderungen durch die islamistische Hamas zu mehreren Stunden Verzögerung bei der Auslieferung gekommen. Die Organisation hatte die Bevölkerung zu einem Boykott des neuen Verteilmechanismus aufgerufen.

Mit der von den USA unterstützten Verteilstrategie will die israelische Regierung nach eigenen Angaben verhindern, dass die Hamas Lieferungen für ihre eigenen Zwecke abzweigt und weiterverkauft, um damit dann Kämpfer und Waffen zu bezahlen. UN-Vertreter sagen, Israel habe keine Beweise dafür vorgelegt.

Die vier GHF-Verteilzentren im Süden und im Zentrum des Gazastreifens sollen von US-Sicherheitsfirmen betrieben werden. Israel will so Hilfsorganisationen der UN und anderer internationaler Helfer umgehen.

Netanjahu spricht von "momentanem Kontrollverlust"

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach am Dienstagabend von einem nur "momentanen Kontrollverlust" bei der Verteilung der Hilfsgüter. Ziel sei es, "eine sterile Zone im Süden Gazas zu haben, in der die gesamte Bevölkerung sich zu ihrem eigenen Schutz bewegen kann".

Viele Palästinenser befürchten eine neue Welle der Flucht und Vertreibung aus dem Gazastreifen, ähnlich wie während des Kriegs im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 und während des Sechstagekriegs 1967. An Israels Vorgehen in dem Küstengebiet, wo täglich Dutzende Tote infolge israelischer Angriffe gemeldet werden, gibt es international massive Kritik.

Hilfsorganisationen kritisieren neuen Verteilmechanismus

Hilfsorganisationen kritisieren den Verteilmechanismus der neuen Stiftung weiter scharf. "Gestern war es ein grosser Misserfolg für diese Struktur, die sie geschaffen haben", sagte der Direktor der palästinensischen Gesundheitsorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS) in Ramallah, Mustafa Barghouti. "Diese ganze Idee ist eine israelische Idee, eine Netanjahu-Idee, den humanitären Bedarf als Waffe zu nutzen", sagte der NGO-Vertreter. Die neue Stiftung handle "problematisch, weil die humanitäre Hilfe für politische und militärische Zwecke instrumentalisiert" werde, sagte auch Riad Othman, Nahost-Referent der Hilfsorganisation Medico International.

Zweites Verteilungszentrum eröffnet

Die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) hat nach eigenen Angaben ein weiteres Verteilungszentrum für humanitäre Hilfsgüter im Gazastreifen eröffnet. Dort sei ohne Zwischenfälle Lebensmittelhilfe aus acht Lastwagen verteilt worden, hiess es laut dpa am Mittwochnachmittag in der Mitteilung der Stiftung.

An den zwei eröffneten Verteilungszentren seien bisher 14.550 Lebensmittelpakete verteilt worden. Jedes Paket könne 5,5 Menschen dreieinhalb Tage lang ernähren. Es handele sich um 840.262 Mahlzeiten.

Geisel-Angehörige begehen 600. Tag seit Entführung

Die Notlage in dem Küstengebiet hat sich im Zuge des Gaza-Kriegs seit Oktober 2023 nochmals drastisch verschärft. Ausgelöst wurde der Krieg durch das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels: Terroristen der Hamas und anderer islamistischer Gruppen töten bei einem Überfall auf den Süden des jüdischen Staates rund 1.200 Menschen und verschleppten mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen. Im Krieg wurden dann nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 54.000 Palästinenser in Gaza getötet. Die unabhängig kaum zu überprüfende Zahl fasst Kämpfer und Zivilisten zusammen.

Die Angehörigen der noch immer in Gaza festgehaltenen israelischen Geiseln erinnern heute daran, dass sich ihre Liebsten schon seit 600 Tagen in der Gewalt der Hamas befinden. Nach israelischen Angaben befinden sich derzeit noch mindestens 20 lebende Geiseln im Gazastreifen. Bei drei weiteren Entführten ist unklar, ob sie noch am Leben sind. Zudem befinden sich die sterblichen Überreste von 35 Verschleppten in dem abgeriegelten Gebiet mit unzähligen unterirdischen Tunnelanlagen. (dpa/ bearbeitet durch lc)