Bisher kontrolliert Israel rund drei Viertel des Gazastreifens. Medienberichten zufolge will Israels Premier Benjamin Netanyahu nun das komplette Gebiet besetzen lassen. Kritiker warnen vor diesem Vorgehen, ein Militärexperte ist sich jedoch sicher: "Die Verluste auf Seiten der Hamas sind enorm. Der Widerstand kann nun nicht mehr so koordiniert stattfinden."

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Bilder eines ausgemergelten Mannes gingen um die Welt. Eviatar David ist eine der verbliebenen rund 50 israelischen Geiseln, die Schätzungen zufolge noch in der Hand der Hamas sind. Für ein Propaganda-Video der Terrororganisation wurde er befragt und dabei gezeigt, wie er mit einer Schaufel in einem Tunnel sein eigenes Grab schaufeln sollte. Weltweit verurteilten Staats- und Regierungschefs diese brutale Inszenierung.

Auch in Israel sorgten die Bilder von David und einer weiteren Geisel, Rom Braslavski, für Entsetzen und könnten jetzt auch militärische Konsequenzen nach sich ziehen. Der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu sieht die veröffentlichten Videos als Beleg dafür, dass die Hamas kein Abkommen über einen Waffenstillstand möchte: "Sie wollen uns mit diesen schrecklichen Videos und der falschen Horrorpropaganda, die sie weltweit verbreiten, brechen."

Medienbericht: Netanjahu erwägt Ausweitung der Offensive im Gazastreifen

Medienberichte: Netanjahu erwägt Ausweitung der Offensive im Gazastreifen

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu dringt Medienberichten zufolge auf eine vollständige Einnahme des Gazastreifens. Netanjahu selbst hatte zuvor nur gesagt, er werde das Sicherheitskabinett einberufen, um über das weitere Vorgehen in dem abgeriegelten und grossflächig zerstörten Küstenstreifen zu entscheiden.

25 Prozent sind noch nicht in der Hand der Israelis

Nachdem die Gespräche zwischen der israelischen Regierung und der Hamas in Doha ins Stocken geraten sind, will Netanyahu israelischen Medienberichten zufolge nun den kompletten Gazastreifen besetzen. Aktuell hält die israelische Armee rund 75 Prozent des Gebietes, das ungefähr die Grösse von München umfasst. 25 Prozent sind weiterhin unkontrolliert beziehungsweise in den Händen der Hamas.

Bislang hatte die israelische Armee davor zurückgeschreckt, weiter vorzurücken – auch aus Sorge vor hohen Verlusten in den eigenen Reihen und unter den verbliebenen Geiseln. Premier Netanyahu soll nun der "Jerusalem Post" zufolge dem Generalstabschef Eyal Zamir angeordnet haben, den Gazastreifen komplett zu besetzen und habe ihm, sollte er sich weigern, den Rücktritt nahegelegt.

Militärexperte: Hamas ist dezimiert

In der Tat seien diese Sorgen vor hohen Verlusten insbesondere zu Beginn der Offensive im Gazastreifen berechtigt gewesen, so der Militärexperte und Oberst a.D. Ralph Thiele gegenüber unserer Redaktion. Das immer noch in Teilen intakte Tunnelsystem im Gazastreifen berge tatsächlich die Gefahr, dass Soldaten hinterrücks erschossen werden. Allerdings sei diese Gefahr inzwischen bedeutend kleiner geworden, da grosse Teile der Hamas ausser Gefecht gesetzt worden sind.

Nach israelischen Angaben sind seit Beginn der Offensive ungefähr 20.000 der ursprünglich rund 30.000 Hamas-Terroristen getötet worden. 80 Prozent des Waffenarsenals soll vernichtet worden sein.

"Die Verluste auf Seiten der Hamas sind enorm. Der Widerstand kann nun nicht mehr so koordiniert stattfinden", erklärt Thiele. Auch die Angriffe auf die Hisbollah und den Iran in den vergangenen Jahren hätten der Terrororganisation stark zugesetzt. Auf der anderen Seite seien die Verluste auf israelischer Seite mit ungefähr 450 toten Soldaten "sehr gering, gemessen an der komplexen Ausgangslage".

Leben der Geiseln nachrangig

Premier Netanyahu scheint also eine günstige Gelegenheit zu sehen, um "Nägel mit Köpfen zu machen", so Thiele. Das Leben der Geiseln werde dabei wohl keine entscheidende Rolle spielen. Es sei sehr wahrscheinlich, dass die verbliebenen lebenden Geiseln getötet würden, sobald sich israelische Soldaten ihren Aufenthaltsorten näherten.

Das scheint Netanyahu aber in Kauf zu nehmen, um der Hamas einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Er ist offenbar überzeugt, dass eine friedliche Lösung mit der Hamas nicht möglich und der Weg über die Verhandlungen gescheitert ist.

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"Jede Geisel, die bisher lebend gerettet werden konnte, ist ein Wunder", so Militärexperte Thiele. Die Wahrscheinlichkeit sei unglaublich gering gewesen, umso mehr, wenn die Geiseln jetzt unversehrt überlebt haben. Er glaubt daher nicht daran, dass über den militärischen Weg noch viele Geiseln lebend befreit werden können: "Das scheint in der jetzigen Planung nachrangig zu sein."

Über den Gesprächspartner

  • Ralph Thiele ist Oberst a.D. und Diplom-Kaufmann. Nach seiner militärischen Karriere entschied sich Thiele für das zivile Leben und ist heute unter anderem Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft sowie Präsident von EuroDefense (Deutschland). Während seiner militärischen Laufbahn gehörte er etwa zum Planungsstab des Verteidigungsministers und zum Private Office des Nato-Oberbefehlshabers.

Verwendete Quellen