Ungarns Regierungschef Viktor Orbán wollte die Pride-Parade in Budapest unterbinden. Am Ende kamen fünfmal so viele Menschen wie in den vergangenen Jahren – die meisten, um gegen seine Politik zu demonstrieren. Ein Eigentor. Ein Erfolg für die Opposition. Und für manchen gar Ausdruck dafür, dass das System Orbán wankt.
Gesichtserkennung und drohende Strafen haben über 200.000 Menschen nicht davon abgehalten, am Samstag an der Pride-Parade in Budapest teilzunehmen. Jener Veranstaltung, die Regierungschef Viktor Orbán mit aller Macht unterbinden wollte. Seine Regierungskoalition hatte dafür eigens ein Gesetz geschaffen, das Veranstaltungen, bei denen queeres Leben öffentlich gezeigt wird, unter dem Deckmantel des Jugendschutzes verbietet.
Was als Machtdemonstration eines immer autokratischer agierenden Ministerpräsidenten gedacht war, ist in einer Schlappe geendet, so die weit verbreitete Lesart osteuropäischer Medien. Die oppositionelle ungarische Tageszeitung "Nepszava" schreibt am Montag gar von einer "totalen Niederlage" Orbáns. "Sein politischer Schachzug, von dem er glaubte, er sei gut ausgeklügelt, ging nach hinten los. Letzten Endes hat er selbst den Aufstand gegen seine Regierungsmacht organisiert."
Der Marsch mit fünfmal so vielen Teilnehmern wie in den vergangenen Jahren habe Orbán daran erinnert, "wie Freiheit aussieht", formuliert es die slowakische Tageszeitung "Sme". "Budapest ist eine freie Stadt."
Polnische Zeitung: Orbán ist in selbst gestellte Falle getappt
Die polnische Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" sieht es ähnlich. "Die Ereignisse rund um die Pride-Parade in Budapest haben das grosse soziale Kapital und den Hunger nach Veränderungen in der ungarischen Politik offenbart. Die Fidesz-Partei [Partei Orbáns; Anm. d. Red.] ist in ihre eigene Falle getappt. Indem sie den Bürgermeister attackiert hat, wird sie ihm nur noch mehr Punkte einbringen."
Budapests links-grüner Bürgermeister Gergely Karacsony hatte die Pride-Parade zum offiziellen Stadtfest umdeklariert und argumentierte, das Versammlungsrecht gelte dann nicht. Regierung und Polizei liessen ihn gewähren. Orbán betonte aber, es werde "rechtliche Konsequenzen" geben.
Der parteilose ungarische Abgeordnete Akos Hadhazy fürchtet deshalb, dass auf den Teilnehmer-Rekord ein Geldstrafen-Rekord folgt. Zahlreiche Kamerawagen der Polizei mit Software zur Gesichtserkennung seien im Einsatz gewesen, schrieb er am Samstag auf Facebook. "Die nächsten Tage werden erweisen, was die Kameras können." Noch ist nicht bekannt, ob und wenn ja wie viele Teilnehmer die Polizei bestraft. Bussgelder bis 500 Euro stehen im Raum. Bürgermeister Karacsony hat die Regierung mit einer bis zu einjährigen Haftstrafe gedroht.
Ungarische EU-Abgeordnete: "System Viktor Orbán könnte bald einstürzen"
Die Pride verlief komplett friedlich. Keine Eskalation seitens der Demonstranten, keine Eskalation seitens der Polizei. Letzteres sei auch der Verdienst von ausländischen Politikerinnen und Politikern, die für die Parade nach Budapest gereist waren, sagte Kata Tüttő, EU-Abgeordnete der ungarischen Sozialdemokraten, dem "Spiegel": "Ihre Anwesenheit hat dazu beigetragen, die Teilnehmer zu schützen." Im Gegenzug habe die Veranstaltung den ausländischen Gästen gezeigt, "dass das ungarische Immunsystem noch funktioniert". Die Europäer wüssten jetzt, dass es für Ungarn eine Zukunft in der Europäischen Union gebe.
Unter anderen hatten sich die belgischen EU-Kommissarin Hadja Lahbib und über 70 Abgeordnete des Europaparlaments auf den Weg gemacht. Einer von ihnen, der deutsche Abgeordnete Daniel Freund von den Grünen, resümierte am Samstag auf "X" in Anlehnung an den Wahlspruch eines anderen gewählten Staatsoberhaupts mit autokratischen Zügen: "Orbán made Pride great again".
Die EU-Abgeordnete Tüttő, geborene Budapesterin, geht im "Spiegel"-Interview noch deutlich weiter. Sie sieht in Orbáns missglücktem Versuch, die Pride mit einem massgeschneiderten Gesetz zu unterbinden, einen Ausdruck seiner Schwäche. "Wir haben gelernt: Je näher der Zusammenbruch eines Imperiums rückt, desto absurder werden seine Gesetze. Genau das erleben wir jetzt, Gesetz für Gesetz, Lüge für Lüge", sagte sie und schlussfolgerte: "Das System Viktor Orbán könnte bald einstürzen."
Orbáns grösster Konkurrent Magyar war nicht auf der Pride
Gleichzeitig räumte sie ein, dass Budapest nicht gleich Ungarn sei: In der Hauptstadt lehnten Umfragen zufolge zwei Drittel der Bürger das Pride-Verbot ab, die Gesamtgesellschaft aber sei weniger progressiv. "In ländlichen Regionen, wo Minderheiten weniger sichtbar sind, ist diese Furcht stärker ausgeprägt." Auch mit anderen Themen punktet Orbán dort stärker, sitzt dort deutlich fester im Sattel.
Dennoch: Im Frühjahr 2026 stehen Parlamentswahlen an. Jüngste Meinungsumfragen sehen Orbáns Fidesz-Partei um elf bis 15 Prozentpunkte im Rückstand hinter der neuen Tisza-Partei des konservativen Herausforderers Peter Magyar. Orbáns grösster Konkurrent hat die Pride und die Debatte um sie gemieden – wohl auch, um Wähler ausserhalb des urban-liberalen Budapests nicht zu verprellen.
Verwendete Quellen
- Material der Deutschen Presse-Agentur (dpa)
- Spiegel Online (Bezahlinhalt): "Das System Viktor Orbán könnte bald einstürzen"