Seit Beginn des Ukrainekriegs rüstet Europa auf. Zukünftig dürften die Nato-Länder noch mehr Geld in ihre Verteidigung pumpen. Doch nur mit Geld alleine lassen sich die Probleme bei der Aufrüstung nicht lösen.

Mehr Politik-News

Wenn die Staats- und Regierungschefs der Nato diese Woche in Den Haag zusammenkommen, werden sie sich aller Voraussicht nach auf eine deutliche Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben einigen. Die europäischen Nato-Länder wollen sich auf Druck der USA beim Thema Sicherheit weniger abhängig von der grossen Schutzmacht machen. Dabei ist unklar, ob die europäische Rüstungsindustrie überhaupt genügend Waffen für eine rasche Aufrüstung produzieren kann.

Nato-Generalsekretär Mark Rutte sagte Anfang Juni, das Thema halte ihn "nachts wirklich wach". Der Nato zufolge übersteigt die russische Waffenproduktion die des Westens bei weitem. Demnach könnte Moskau binnen fünf Jahren so weit sein, das Bündnis anzugreifen.

Die in den Nato-Fähigkeitszielen festgelegten Anforderungen an die Mitgliedsländer sind hoch. Ruttes Vorschlag zum Erreichen dieser Ziele sieht vor, 3,5 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben und 1,5 Prozent für verteidigungsrelevante Infrastruktur wie Brücken, Flughäfen, aber auch für die Cyberabwehr.

Das würde zusätzliche Hunderte Milliarden Euro bedeuten, die jährlich ausgegeben werden müssten. Doch die Verantwortlichen treibt diesbezüglich auch die Frage um: wohin mit dem Geld?

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sprach beim jüngsten Treffen der Nato-Verteidigungsminister von einer "Herausforderung, über die niemand wirklich spricht". Es gehe darum, "wie viel Geld wirklich ausgegeben werden" könne, "wenn die Industrie nicht liefern kann, was wir bestellen", sagte er.

Europäischer Rüstungsmarkt hat viele Baustellen

Die Wartezeit für neue Waffen kann Jahre betragen. Im Deutschland-Sitz des Panzerbauers KNDS dauert es zum Beispiel bis zu zwei Jahre, bis ein bestellter Panzer vom Band rollt. Und bei Langstreckenraketen sind die Europäer nach wie vor auf die USA angewiesen, wo sie ohnehin immer noch den Grossteil ihrer Waffen kaufen.

Die Produktionskapazitäten bei den Konzernen in Europa seien in vielen Fällen da, sagt die aussenpolitische Sprecherin der Grünen-EU-Fraktion, Hannah Neumann, der Nachrichtenagentur AFP. Die konkreten Aufträge würden aber "nicht oder zu langsam ausgelöst". Statt gemeinsam Waffen zu kaufen, machten sich die europäischen Länder nach wie vor gegenseitig Konkurrenz "und treiben die Preise hoch", kritisiert Neumann. Derzeit gebe es noch zu wenig Bereitschaft, mit eingefahrenen Mustern zu brechen.

Auch der Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses im EU-Parlament, Niclas Herbst (CDU), fordert ein Umdenken in den Mitgliedstaaten und einen fairen Wettbewerb auf dem Rüstungsmarkt. Die Industrie brauche zudem "das Vertrauen, dass es dauerhaft einen Absatzmarkt" für ihre Produkte gebe.

Der sicherheitspolitische Sprecher der Europa-SPD, Tobias Cremer, sieht das Problem auch bei den Zulieferern, häufig kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Dort könne es bei erhöhter Nachfrage zu Engpässen kommen. Deswegen sollten die von der EU geplanten Massnahmen zur Entbürokratisierung im Rüstungssektor vor allem diesen Unternehmen zugutekommen, um ihnen den Zugang zu Krediten zu erleichtern.

Die Industrie müsse zudem vom "Boutique-Modell" wegkommen und statt "wenig Quantität mit hohen Margen auf Masse produzieren", fordert Cremer.

Militärindustrie hofft auf mehr Planbarkeit

Den Unternehmen fehlen derweil langfristige Aufträge, die Kapazitäten sind zu gering, die Kosten zu hoch, die Produktionszeiten zu lang und die Branche zu zersplittert.

Industrievertreter sagen zwar, dass die Bestellungen zunehmen, allerdings nicht so schnell wie erhofft und nicht für die gewünschten langen Zeiträume. Der Vorstandsvorsitzende des schwedischen Rüstungskonzerns Saab sagte AFP, sein Unternehmen habe seine Belegschaft um 6.000 Mitarbeiter vergrössert. "Wir erhalten die Signale, dass die Nachfrage hoch sein wird, aber ich kann nicht sagen, dass ich genau weiss, welche Zielwerte wir anstreben", klagte er.

Um die Aufrüstung Europas voranzutreiben, hat die EU-Kommission gerade ein Gesetzespaket vorgestellt. Die Massnahmen sollen bürokratischen Aufwand reduzieren, Investitionen erleichtern und für "mehr Planbarkeit für die Industrie" sorgen. So sind etwa beschleunigte Genehmigungsverfahren für Verteidigungsprojekte, die Förderung gemeinsamer Beschaffung sowie ein verbesserter Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten vorgesehen.

Beim langfristigen Ausbau der Kapazitäten blickt Europa auch auf die Ukraine. In mehr als drei Jahren Krieg sind ukrainische Unternehmen Experten darin geworden, Kosten zu senken. Die Ukraine gehört zudem inzwischen zu den führenden Ländern bei der Drohnentechnologie.

"Die ukrainische Industrie ist sehr wichtig", sagt Guntram Wolff von der Denkfabrik Bruegel in Brüssel. "Die Produkte, die sie herstellen, sind tatsächlich kostengünstig und sehr effektiv." (afp/bearbeitet von thp)