Jan Marsalek lebt offenbar in Moskau, geht beim Geheimdienst ein- und aus, besuchte die Ukraine und Spa-Hotels: Die neuesten Enthüllungen über den flüchtigen Ex-Wirecard-Manager lassen aufhorchen. Eine Autorin erklärt, was Marsalek in Russland macht, wo Behörden und Politik versagt haben und warum weiter Gefahr besteht.

Ein Interview

Jan Marsalek ist zurück in den Schlagzeilen: Der untergetauchte Ex-Wirecard-Manager wurde nun in Moskau geortet. Ein Journalistenverbund, unter anderem aus "Spiegel" (Bezahlinhalt) und ZDF, fand den flüchtigen Österreicher dank Handydaten, Überwachungsbildern und anderer Quellen in Russland, wo er offenbar lebt und beim Geheimdienst FSB ein und aus geht. Dabei wird er immer noch vom deutschen Bundeskriminalamt, Staatsanwaltschaften und Interpol wegen Verdachts auf Bilanzbetrug, Untreue und Geldwäsche im Wirecard-Skandal gesucht.

Journalistin Birgit Jennen hat gerade ein Buch über geheime russische Netze in der deutschen Wirtschaft veröffentlicht. Sie nennt den Wirecard-Skandal ein Symptom viel tiefer liegender Probleme. Schuld seien auch deutsche Politik und Behörden, die zu lange die Wirtschaft vor Sicherheitsfragen gestellt hätten. Und sie kann erklären, wie Marsalek zum Geheimdienst kam und warum uns das eine Warnung sein sollte.

Frau Jennen, warum wird der Wirecard-Skandal trotz seiner Grösse oft wenig beachtet?

Birgit Jennen: Es gibt natürlich Podcasts, Bücher und eine Community, die das sehr eng verfolgt. Im Kern liegt es daran, dass es vorrangig als ein Wirtschaftsskandal wahrgenommen wird. Ausserdem waren die Wirecard-Geschäfte komplex. Das öffentliche Interesse kommt oft über Jan Marsalek als schillernde Figur.

Kurz erklärt: Wer ist Jan Marsalek und warum ist er so wichtig für den Wirecard-Skandal?

Wirecard stieg als Zahlungsdienstleister vom Start-up zu einem der grössten deutschen Unternehmen auf. Später stellte sich heraus, dass der Konzern in grossem Masse betrügerisch operierte. Marsalek war eine führende Figur der Geschäftsführung, hat offenbar enge Kontakte nach Russland geknüpft und suchte dort Schutz, nachdem der Skandal aufflog. Seit 2020 ist er untergetaucht.

Jan Marsalek lebt offenbar relativ unbehelligt in Russland

Seine Flucht soll abenteuerlich gewesen sein, mit gefälschten Identitäten, etwa als Priester. Nun deuten unter anderem Recherchen des "Spiegel" darauf hin, dass er in Moskau relativ frei lebt.

Ja, und dass er offenbar in Verbindung mit dem russischen Geheimdienst FSB steht. Nach dem Skandal brauchte er Schutz; Interpol sucht ihn. Russland ist offenbar ein Schutzort – dafür muss er aber einen Nutzen bieten. Es gibt Hinweise, dass er sich nützlich machte, indem er dem FSB Informationen lieferte.

Ausgewertete Daten verraten etwa, dass er die FSB-Zentrale regelmässig besucht, aber auch Hotel-Spas, E-Scooter fährt, sich Haare transplantieren liess. Was tut er darüber hinaus?

Ich denke, er liefert beständig Informationen und hat sich in das russische Geheimdienstnetzwerk hineingearbeitet. Seine Handlungsspielräume in Europa sind mittlerweile begrenzt, aber Berichte über seine Aktivitäten – etwa Fotos in Kampfmontur aus der Ukraine oder Verwicklungen in Anschlagspläne – deuten darauf hin, dass seine Rolle mehr als die eines gelegentlichen Informanten sein könnte.

Wie kam Marsalek an Russland-Kontakte? Wurde er rekrutiert, erpresst?

Man darf das nicht isoliert als Spionageskandal betrachten. Wirecard suchte offenbar früh Geschäfte mit Russland. Meiner Ansicht nach diente ein grosser Teil des Geschäfts als Kanal für Geldwäsche – nicht nur für Scheingeschäfte, wie es oft heisst. Um solche Kanäle aufzubauen, brauchte Marsalek Russlandkontakte. Über Geschäftspartner und persönliche Verbindungen, etwa eine ehemalige Erotikdarstellerin, lernte er Personen kennen, die offenbar Zugang zu russischen Diensten hatten.

Geschieht so ein Übergang von Wirtschaftskriminalität zu Spionage oft?

Solche Überschneidungen sind nicht alltäglich, aber in Schattenbereichen durchaus möglich. Menschen, die in illegale Finanznetzwerke eingebunden sind, treffen auf dubiose Akteure. Für jemanden mit Marsaleks Profil – hohe Risikobereitschaft, Faible für Geheimdienste, geringe moralische Hemmungen – ist ein solches Hineinwachsen in diese Tätigkeiten plausibel.

Birgit Jennen

Geldwäsche und geopolitische Netzwerke

Was hatte Russland davon, Wirecard als Vehikel für russisches Schwarzgeld aufzubauen?

Nach dem Zerfall der Sowjetunion floss viel Korruptionsgeld ins Ausland. Während die USA härter gegen Geldwäsche vorgingen, verfolgten deutsche Stellen teils eine wirtschaftsfreundlichere Linie gegenüber Russland. Als Präsident Wladimir Putin 2006 nach München kam, sagte er: "Russland kommt nicht mit Kalaschnikows, sondern mit Geld." Wirecard bot meiner Ansicht nach Russlands Reichen, die ihr Geld nach Europa transferieren wollten, Kanäle für legale und illegale Zahlungen.

Weiss man, wohin das Geld geflossen ist? Ist es verschwunden, wie so vieles bei Wirecard?

Das Problem ist, dass die Untersuchungen bisher zu kurz greifen, vor allem auf die Manipulation der Bilanzen schauen und sagen: "Das Geld gab es nie."

Wenn man die Geldwäschedimension untersucht, stellt sich ein anderes Bild dar. Um so ein System aufzubauen, braucht es ein Netzwerk. Nicht nur Kontakte nach Russland, sondern auch Unterstützer in Deutschland: Infrastruktur, Dienstleister, Security Firmen, Kanzleien. Dieses ganze Netzwerk schützte Wirecard meiner Ansicht nach lange Zeit.

Worin sehen Sie in Ihren Recherchen Versäumnisse deutscher Behörden und Dienste?

Es gab früh Warnungen von Bündnispartnern. Aber Wirtschaftspolitik wurde oft vor Sicherheitsinteressen gestellt. Das ermöglichte, dass Wirecard über Jahre Strukturen aufbauen konnte.

War also die Rolle Marsaleks in Russland deutschen Geheimdiensten durchaus bewusst?

Es ist schwer vorstellbar, dass deutsche Dienste das Treiben von Wirecard und Marsalek nicht im Blick hatten. Vor allem, weil es ja wiederkehrende Warnungen aus den USA und Grossbritannien gab. Ich gehe davon aus, dass deutsche Dienste ihn beobachtet und möglicherweise instrumentalisiert haben, um Informationen oder Zugänge zu erhalten. Gleichzeitig hat Marsalek den Russen Dinge angeboten, die ihm Schutz verschafften. Einen klassischen Doppelagenten-Fall würde ich es aber nicht nennen.

"Wirecard ist ein Lehrstück dafür, wie wirtschaftliche Interessen über Jahre Netzwerke schaffen können, die Sicherheitsfunktionen aushebeln."

Sind Wirecard und Marsalek ein Einzelfall oder symptomatisch für ein grösseres Problem, wie Sie es in Ihrem Buch "Putins Marionetten" beschreiben?

In dieser Ausprägung sicher ungewöhnlich, aber das zugrundeliegende Problem ist systemisch. Wirecard ist ein Lehrstück dafür, wie wirtschaftliche Interessen über Jahre Netzwerke schaffen können, die Sicherheitsfunktionen aushebeln. Deutschland verfolgte lange eine "Wandel durch Handel"-Linie: Ökonomische Beziehungen zu Russland hatten hohe Priorität, auch in der Politik.

Jetzt könnte man sagen: Das ist Vergangenheit, Russland nun ein Feind, es gibt Sanktionen.

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Dasselbe Muster ist auch bei China relevant: Beratungsstrukturen, Investments und Partnerschaften öffnen politische Einflusskanäle. Es muss ganz klar sein, dass Sicherheit nicht verhandelbar ist. In dem Moment, wo deutsche Sicherheit tangiert ist, müssen der Wirtschaft Grenzen gesetzt werden.

Über die Gesprächspartnerin

  • Birgit Jennen arbeitet seit über 25 Jahren als international als Wirtschafts- und Politikjournalistin. Sie schrieb für Nachrichtenagenturen und die Financial Times Deutschland aus Brüssel, Buenos Aires und Madrid. Heute ist sie auch Dozentin und Buchautorin. Im September 2025 erschien „Putins Marionetten -Wie geheime Netze in der deutschen Wirtschaft und Sicherheitsdienste uns an Russland ausliefern“ im Deutschen Wirtschaftsbuchverlag.