Bislang basierte der Wohlstand Saudi-Arabiens vor allem auf Erdöl. Damit soll aber Schluss sein. Das Land investiert in neue Technologien – und Mega-Projekte wie "The Line", das grösste Bauvorhaben der Welt. Doch es könnte vor dem Aus stehen.
Kaum ein Land treibt seine eigene Transformation ähnlich aggressiv voran wie Saudi-Arabien. War das Königreich am Roten Meer noch vor wenigen Jahren vor allem als Exporteur religiösen Extremismus bekannt, inszeniert sich der junge Kronprinz
Während Menschen jahrzehntelang religiös kontrolliert und insbesondere Frauen systematisch unterdrückt wurden, betreibt Saudi-Arabien inzwischen eine vorsichtige gesellschaftliche Liberalisierung. Und wo früher die Religionspolizei das Strassenbild prägte, öffnen heute Kinos, Konzerthallen und Sportstadien ihre Türen.
In keinem Bereich materialisiert sich der Wandel des Landes aber so deutlich wie in der Wirtschaft. Seit seiner Gründung im Jahr 1932 basiert der saudische Wohlstand fast ausschliesslich auf Ölexporten.
Schwankende Ölpreise, wachsender Energiebedarf und der Klimawandel machen dieses Geschäftsmodell aber zunehmend riskant. Entsprechend investiert Saudi-Arabien Milliarden von Petrodollars in Geschäftsfelder, die langfristig unabhängig vom Öl funktionieren sollen, zum Beispiel in Tourismus, grünen Wasserstoff und Technologie.
Vision 2030 soll Modernisierung und Soft Power verkörpern
Eingebettet ist dieser wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbau in eine nationale Entwicklungsstrategie, die das Königshaus "Vision 2030"getauft hat und so etwas wie ein Reformprogramm ist, welches das Land in den nächsten Jahren wirtschaftlich, sozial und administrativ transformieren soll.
Die wohl sichtbarste Umsetzung dieser Vision entsteht gerade im Nordwesten des Landes: Eine gigantische Sonderwirtschaftszone mit dem Namen NEOM, die so etwas wie das Flagschiff dieser Vision 2030 ist. NEOM ist nicht nur das grösste Bauvorhaben der Welt, sondern auch ein Symbol für den Anspruch des Landes, Modernisierung und Soft Power zugleich zu verkörpern. Und ausgerechnet in diesem Leuchtturmprojekt hakt es gerade offenbar gewaltig.
Wie zuerst die Schweizer Boulevardzeitung Blick berichtete, soll der saudische Staatsfonds PIF Mitte September die Bauarbeiten am Teilprojekt "The Line" gestoppt haben. Führungskräfte seien versetzt, rund 1000 Mitarbeiter nach Riad verlegt und hunderte weitere entlassen worden. Vieles spricht dafür, dass wesentliche Teile des Projekts empfindlich verkleinert, womöglich sogar ganz gestrichen werden.
Der Imageschaden einer solchen Entscheidung wäre immens. "The Line" gilt neben dem schwimmenden Industriezentrum Oxagon, dem futuristischen Bergresort Trojena und der Luxusinsel Sindalah als das urbane und symbolische Herz von NEOM, wenn man so will, wie eine Art futuristische Hauptstadt.
Wenn "The Line" vollendet ist, soll daraus eine 170 Kilometer lange, 200 Meter breite und 500 Meter hohe vertikale Stadt werden, in der bis zu neun Millionen Menschen leben. Die Stadt soll vollständig emissionsfrei sein, Autos sind nicht zugelassen, eine Hochgeschwindigkeitsbahn verbindet die beiden Enden von "The Line" in 20 Minuten.
Technisch wäre es der Beweis, dass ausgerechnet der Petrostaat Saudi-Arabien die erste emissionsfreie Smart City der Welt errichten kann. Symbolisch wäre sie die Blaupause für das neue Saudi-Arabien, das nicht nur mit Metropolen wie Singapur oder Dubai konkurriert, sondern als attraktiver Investitionsstandort Technologie, Nachhaltigkeit und Architektur verbindet.
Kritiker sehen darin allerdings auch ein Schaufensterprojekt, das von Menschenrechtsdefiziten und autoritären Strukturen ablenken soll. In jedem Fall ist "The Line" aber ein Bruch mit dem alten, besonders im Vergleich zu umliegenden Metropolen wie Dubai oder Abu Dhabi, leicht verschrobenen Image des Landes.
Bilanzen und Renditeerwartungen sollen geschönt worden sein
Zweifel, ob diese Vision überhaupt einmal umgesetzt werden kann, gibt es schon seit den ersten Präsentationen. Das betrifft nicht nur die Frage, ob sich jemals neun Millionen Menschen finden lassen, die freiwillig in einer Glaswand mitten in der Wüste leben wollen. Zweifel gibt es auch an der finanziellen Tragfähigkeit.
Bereits im März berichtete das Wall Street Journal über interne Präsentationen, die Kostenexplosionen und geschönte Renditeprognosen dokumentieren sollen. Demnach sollen beispielsweise Hotelpreise in den Resorts künstlich erhöht worden sein, um höhere Erträge vorzuspielen. MBS selbst soll über diese Managementfehler im Unklaren gelassen worden sein. Auch die ursprünglich kalkulierten Baukosten von rund 500 Milliarden US-Dollar sollen sich laut demselben Bericht auf knapp neun Billionen vervielfacht haben.
Zum Vergleich: Der saudische Staatshaushalt beläuft sich auf rund 300 Milliarden US-Dollar, der Staatsfonds PIF verfügte 2024 laut offiziellen Angaben über Vermögenswerte von rund 925 Milliarden US-Dollar, davon nur ein Bruchteil in liquiden Mitteln. Gleichzeitig finanziert der Fonds zahlreiche andere Grossprojekte, darunter in Rüstungsindustrie, Tourismuswirtschaft und erneuerbare Energien.
Selbst wenn sich die Kosten im Rahmen hielten, würden sie den Haushalt empfindlich belasten. Nach Berechnungen von Bloomberg braucht Saudi-Arabien einen Ölpreis von mindestens 96 US-Dollar pro Barrel, um seine Haushaltsbilanz zu decken. Aktuell liegt er bei rund 82 Dollar. Das lässt die Tragbarkeit des Projekt erst recht absurd erscheinen.
Geschönte Zahlen und explodierende Kosten sind wiederum Gift für Investoren. Wenig überraschend ist daher, dass internationale Anleger dem Königshaus bislang nicht die Türen einrennen. Berichten zufolge liegt das nicht allein an den unrealistischen Renditeerwartungen, sondern auch an Zweifeln an der Menschenrechtslage und der generellen Machbarkeit des Projekts.
Dass inzwischen eine Reihe namhafter Manager NEOM verlassen hat, dürfte das Vertrauen internationaler Geldgeber zusätzlich erschüttern und das wiederum weitere Investoren abschrecken.
Die Umstrukturierung des Projekts fällt in eine Zeit, in der Saudi-Arabien ohnehin andere Prioritäten setzt. "Die in die Höhe schiessenden Kosten, aber auch geopolitische Risiken in der Region, haben schon länger zu einer Neupriorisierung von Teilprojekten bei NEOM geführt“, erklärt der Nahostforscher Thomas Demmelhuber von der Universität Erlangen-Nürnberg.
"Die Fussball-WM 2034 oder andere Grossveranstaltungen haben jetzt erstmal kurzfristig höchste Priorität." Statt Milliarden in Visionen zu investieren, setzt MBS damit auf Projekte, die kurzfristig Sichtbarkeit und Legitimation bringen, im Inland wie international.
Saudi-Arabien ordnet die Investitionen neu
Auch der Politikwissenschaftler Sebastian Sons sieht in den Entwicklungen weniger ein Scheitern als eine strategische Verschiebung der Ressourcen. "Saudi-Arabien befindet sich in einem fundamentalen Strukturwandel“, sagt Sons. "Es müssen Arbeitsplätze für die junge Bevölkerung und bezahlbarer Wohnraum in Städten wie Riad geschaffen werden.“
Diese Ziele hätten inzwischen höhere politische Priorität als NEOM. In der saudischen Gesellschaft spiele das Megaprojekt ohnehin kaum eine Rolle: "Den Menschen geht es eher um Arbeitsplätze, Bildung und öffentlichen Nahverkehr.“
Sons warnt jedoch, dass ein Rückzug bei "The Line" die Reformlegitimation des Königshauses gefährden könnte. Zugleich werde MBS bemüht sein, "das Image als neues Investitionszentrum in der Golfregion aufrechtzuerhalten, andere Projekte zu pushen und mit Erleichterungen für ausländische Investoren zu werben“.
Realistisch ist, dass Saudi-Arabien mehr Investitionen in die rasant wachsende Stadt Riad lenkt, die angesichts von Bevölkerungsprognosen von bis zu acht Millionen Einwohnern im Jahr 2030 schon jetzt vor enormen Wohnungs-, Verkehrs- und Versorgungsproblemen steht.
Der Staat investiert dort Milliarden in neue Wohnquartiere, Verkehrssysteme und Wasserversorgung, also Massnahmen, die für die saudische Mittelschicht spürbar sind und politisch deutlich mehr Rückhalt bringen als ein Glasmonolith in der Wüste. Auch Investitionen in den Tourismus, wie etwa in die historische Oasenstadt Al-Ula, liefern bereits jetzt sichtbare und international vermarktbare Ergebnisse.
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Trotzdem erwartet Nahostexperte Demmelhuber keine totale Kehrtwende bei NEOM, sondern eher ein "gezieltes Prioritätenmanagement und eine pragmatischere Ausrichtung am Machbaren“. Ein kompletter Baustopp sei unwahrscheinlich, zu gross wäre der Gesichtsverlust für das Königshaus. "Wenn das Aushängeschild stockt, könnte das Zweifel am Reformtempo insgesamt schüren“, sagt er. "Das will die Familie Al Saud vermeiden. Denn ihr politisches Überleben hängt an diesem Zukunftsversprechen.“
Über die Gesprächspartner
- Dr. Sebastian Sons ist Experte für die arabischen Golfmonarchien und arbeitet als Wissenschaftler beim Center for Applied Research in Partnership with the Orient (CARPO).
- Prof. Dr. Thomas Demmelhuber ist ein deutscher Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Naher Osten. Seit 2015 ist er Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Verwendete Quellen:
- Disruption Banking - Why Foreign Investors Have Shunned Saudi Arabia’s “Line”
- bloomberg.com: Saudi Arabia and MBS are Far From Breaking Their Reliance on Oil
- wsj.com: What Went Wrong at Saudi Arabia’s Futuristic Metropolis in the Desert
- neom.com: The Line