Emmanuel Macron hat einen neuen Premierminister ernannt – und es ist der alte: Sébastian Lecornu, ein enger Vertrauter. Politikwissenschaftler Luc Rouban erklärt, wie die Lage in Frankreich einzuschätzen ist.

Ein Interview

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat den vor wenigen Tagen zurückgetretenen Premierminister Sébastian Lecornu überraschend erneut zum Regierungschef ernannt. Der 39-jährige Lecornu, ein enger Vertrauter Macrons, hatte nach nur 27 Tagen im Amt nach regierungsinternen Spannungen am 6. Oktober sein Amt niedergelegt und soll nun als Premier weitermachen und ein neues Kabinett zusammenstellen.

Der Politikwissenschaftler Luc Rouban schätzt im Gespräch mit unserer Redaktion ein, wie es in Frankreich weitergeht.

Wie ist die Lage in Frankreich? Was bedeutet die erneute Ernennung von Premierminister Sébastian Lecornu? War das eine Überraschung?

Luc Rouban: Es ist eine Minimallösung in letzter Minute. Der Präsident lehnte eine Regierung aus dem linken Lager oder dem Rassemblement National (RN, Rechtsnationale von Marine Le Pen; Anm .d. Red.) ab. Die Idee der Allianz von Macron und den Republikanern (konservativ, rechtes Lager; Anm. d. Red.) geht nun weiter, es gibt keinen Wechsel. In der Regierung soll aber kein Kandidat sein, der bei den Präsidentschaftswahlen 2027 antritt.

Warum hat Macron die Auflösung abgelehnt?

Bei Neuwahlen hätte der RN siegen können, das wäre das Ende des Einflusses für Macron gewesen und eine neue Niederlage. Auch die anderen Parteien, Republikaner und Sozialisten vor allem, hatten Angst, Sitze zu verlieren.

Macron hat gepokert. Ist es das Ende der Ära Macrons?

Macron spielt seine letzte Karte, er hat gepokert, aber nicht gewonnen: Lecornu oder das Chaos. Es ist das Ende der Ära Macrons. Ich bin nicht sicher, ob die Regierung Lecornu sich lange halten wird. Wenn das Budget im Parlament verhandelt wird (Die Verhandlungen sollten in den nächsten Tagen beginnen; Anm. d. Red.) muss mit einem Misstrauensantrag gerechnet werden. Wenn die Sozialisten sich neben den Linken von LFI (extreme Linke, La France Insoumise; Anm. d. Red.) und dem RN beteiligen, wird es kritisch für die Regierung. (Die Sozialisten haben mit Partnern 69 Sitze. LFI hat 71, RN mit Partnern 123 Sitze. Dazu kommen noch Grüne, Kommunisten und diverse Linke. Insgesamt hat die Nationalversammlung 577 Sitze, die Mehrheit sind 289 Sitze; Anm. d. Red.)

Die Sozialisten könnten höchstens durch ein Entgegenkommen in Bezug auf Macrons Rentenreform überredet werden. (Die vor zwei Jahren verabschiedete Reform erhöht das offizielle Rentenalter stufenweise von 62 auf 64 Jahre. Die Sozialisten wollten entweder den Premier stellen oder die Rentenreform bis zu den Präsidentschaftswahlen 2027 aussetzen. Derzeit liegt das Rentenalter bei 62 Jahren und neun Monaten. Macron liess schon die Bereitschaft zur Diskussion durchblicken; Anm. d. Red.) Die Sozialisten können aber eigentlich nicht gewinnen. Wenn sie auf Macrons Entgegenkommen eingehen, wird ihnen nachgesagt, dass sie diesen unterstützen. Das kann schlecht für die Präsidentschaftswahlen 2027 sein. Wenn sie es ablehnen, könnte es zur Auflösung der Nationalversammlung kommen und sie Sitze verlieren.

Ist die Stabilität völlig dahin? Was bedeutet es für Europa und Deutschland?

Die Krise darf nicht zu lange dauern, sonst wird aus einer politischen Krise eine wirtschaftliche Krise und belastet Frankreichs Finanzen. Frankreich ist immer noch ein wichtiger Partner für Deutschland, auch wenn die Programme derzeit etwas blockiert sind. Es darf aber auf keinen Fall zu einer Blockade des Landes durch Proteste kommen.

Wie wird das Budget für 2026 aussehen?

Der Haushalt wird sicher bescheidener ausfallen als unter François Bayrou. (Lecornus Vorgänger wollte 44 Milliarden Euro einsparen und stürzte darüber; Anm. d. Red.) Sonst ist es schwer vorauszusagen. Sicher wird es in irgendeiner Form Steuererhöhungen geben. Für Reiche, das ist fraglich. Viele fürchten ihre Flucht aus dem Land.

Wie kann man das Chaos beseitigen, wird es schlimmer?

Wenn nochmal der Premier durch ein Misstrauensvotum stürzt, wäre der nächste Schritt möglicherweise doch die Auflösung der Nationalversammlung. Lecornu ist die letzte Karte von Macron, aber vielleicht eben auch nicht. Doch bis 2027 kann das politische Chaos nicht so weitergehen.

Hat Macron Verantwortung übernommen, wie angekündigt?

Nicht wirklich. Mit einer Auflösung hätte er Verantwortung übernommen. Aber niemand will den Erfolg des RN wahrhaben. Das zeigt sich schon daran, dass Macron die Partei nicht zu seiner letzten Beratungssitzung eingeladen hat. Das ist eine Vogel-Strauss-Politik. Man kann den Kopf nicht in den Sand stecken und die Wähler ignorieren, das führt nur dazu, dass der RN stärker wird.

Wie kam es zum Chaos? Frankreich war es historisch gewohnt, klare Mehrheiten zu haben. Die Zeiten sind aber vorbei.

Die Gesellschaft hat sich radikalisiert, links und rechts. Die Sozialisten sind fast verschwunden, viele sind zu Macron übergelaufen. Die sozialistischen Wähler wurden durch die Präsidentschaft von François Hollande enttäuscht, der wenig links stand, sondern eher liberal war. Die Enttäuschten liefen zur linken LFI über. Und die Rechten wurden von den Republikanern enttäuscht. In Zeiten der Globalisierung und des Ansturms der Migranten fürchten viele um die Identität Frankreichs. Die Republikaner hatten darauf nicht genug Antworten, die die Wähler eher beim RN fanden.

Was heisst das für die Politik im Land?

Empfehlungen der Redaktion

Bei Neuwahlen könnte RN 60 bis 80 Sitze dazugewinnen. Das sind Wahlkreise, in denen sie 2024 knapp unter 50 Prozent lagen, insgesamt 80 in Frankreich. RN könnte so durchaus die Mehrheit erreichen. Es sind 577 verschiedene Wahlen (577 Sitze), das ist nicht mit der Präsidentschaftswahl zu vergleichen.

Über den Gesprächspartner

  • Luc Rouban ist Forschungsdirektor beim nationalen wissenschaftlichen Forschungszentrum CNRS (Centre national de la recherche scientifique) und arbeitet für die Politikhochschule Sciences Po. Er forscht über Eliten, Veränderungen im Staat und in der Demokratie in Frankreich und Europa. Zuletzt beschäftigte er sich mit dem Vertrauen in die Politik und dem Macronismus.

Verwendete Quellen