In der Türkei sieht sich die Opposition massivem Druck ausgesetzt: Zahlreiche Verhaftungen und politische Verfahren erschüttern die CHP. Nun droht dem Parteichef Özgür Özel die Absetzung. Ein Experte warnt vor einer Zuspitzung der autoritären Tendenzen am Bosporus.
Es geht um nichts weniger als ihr politisches Überleben: Die türkische Opposition sieht sich seit Monaten Verhaftungswellen und politisch motivierten Verfahren ausgesetzt, jetzt arbeitet das Erdogan-Regime an der Absetzung des Parteichefs der CHP – wegen angeblicher "Unregelmässigkeiten" beim Parteitag im Jahr 2023.
Das ursprünglich für September angesetzte Verfahren sollte die Parteitagswahlen auf nationaler Ebene annullieren. Damals war CHP-Chef Özgür Özel ins Amt gewählt worden. Die Delegierten sollen gekauft worden sein, um für ihn zu stimmen, so der Vorwurf. Ausserdem wird ihm wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung der Prozess gemacht – bei dem die Staatsanwaltschaft mehr als zwei Jahre Haft und ein Politikverbot fordert.
Erdogan attackiert seine Gegner direkt
Das Verfahren zur Absetzung von Özel wurde nun aber auf Ende Oktober verschoben. Sollte er dann abgesetzt werden, würde ein Treuhänder die grösste Oppositionspartei des Landes führen. Die mögliche Absetzung des CHP-Politikers ist der vorläufige Höhepunkt des immer grösser werdenden Drucks auf die Opposition, die alle grossen Städte der Türkei regiert.
Viele Stadtverwaltungen wurden in den letzten Monaten bereits unter Zwangsverwaltung gesetzt, zahlreiche CHP-Bürgermeister verhaftet. In Istanbul war die gewählte CHP-Spitze bereits mit Verweis auf formale Mängel entmachtet und ein parteiintern umstrittenes Kuratorium eingesetzt worden.
Eins der bekanntesten Gesichter ist das des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoglu. Der 54-Jährige gilt als stärkster Konkurrent von Präsident Erdogan, bereits zwei Mal hat er die wichtige Metropole Istanbul in Wahlen für sich entschieden.
Trotz Verhaftung war Imamoglu einstimmig als Präsidentschaftskandidat nominiert worden. Sollte er aber wegen des ihm vorgeworfenen Diplombetrugs verurteilt werden, wäre eine Kandidatur rechtlich nicht mehr möglich. Auf "X" warnte er jüngst: "Wir bewegen uns auf einem Weg, auf dem Wahlen und Abstimmungen keine Bedeutung mehr haben. Wir müssen die Demokratie, das Wahlrecht der Bevölkerung und die Rechtsstaatlichkeit schützen."
Protest der CHP gegen Erdogans Angriff auf die Demokratie
Auch den Politikwissenschaftler Hüseyin Çiçek alarmieren die Entwicklungen in der Türkei. "Die jüngsten Entwicklungen in Istanbul markieren eine weitere Zuspitzung der autoritären Tendenzen in der Türkei", sagt er unserer Redaktion. Alles deute auf juristische sowie politische Instrumentalisierungen gegen eine der stärkeren Oppositionsparteien hin.
In den Reihen der CHP ist der Protest gross. Seit Monaten veranstaltet sie unermüdlich Kundgebungen im ganzen Land, kurz vor dem geplanten Verfahren gegen Özel versammelten sich zehntausende Anhänger auf dem geschichtsträchtigen Tandogan-Platz in Ankara.
"Der Protest der CHP gegen diesen Eingriff ist natürlich parteipolitisch motiviert und ein notwendiges Aufbegehren gegen die Aushöhlung weiterer demokratischer Grundprinzipien", sagt Çiçek. Die Abriegelung der Parteizentrale, Demonstrationsverbote und digitale Einschränkungen würden zeigen, dass hier keine parteiinterne Streitigkeit vorliege, sondern es sich vielmehr um einen Angriff auf die politische Pluralität des Landes handelt.
Ob sich die Opposition erfolgreich gegen die Eingriffe wehren kann, ist aus Sicht des Experten fraglich.
Erdogan sichert seine Macht
Das Ziel Erdogans scheint dabei auf der Hand zu liegen: Der 71-Jährige ist nur dank einer Systemänderung im Jahr 2017 seit über 20 Jahren an der Macht. Seine jetzige Amtszeit endet 2028. Eigentlich könnte er dann nicht wiedergewählt werden, Beobachter erwarten aber, dass er eine Wiederwahl anstrebt.
"Erdogan nutzt diese Verfahren als Teil einer autoritären Machtsicherung. Ziel ist es, politische Gegner systematisch zu diskreditieren, einzuschüchtern und auszuschalten – sei es durch Gerichtsprozesse, Medienkampagnen oder legislative Werkzeuge wie das 'Desinformationsgesetz'", sagt auch Çiçek.
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Auch die Kurdenfrage bleibe dabei für ihn taktisch relevant: "Sie wird instrumentalisiert, um Oppositionspolitiker mit Terrorismusvorwürfen zu delegitimieren und nationalistische Unterstützung zu mobilisieren", sagt der Forscher.
Zwar erlebe man nicht formal, doch aber inoffiziell das Ende des politischen Wettbewerbs in der Türkei. "Wahlen finden weiterhin statt, haben aber zunehmend symbolischen Charakter", meint er.
Das Machtgleichgewicht sei durch Kontrolle von Justiz, Medien und Sicherheitsapparat massiv verzerrt. Politische Wettbewerbsfähigkeit werde gezielt untergraben – durch eine selektive Justiz, mediale Gleichschaltung und strukturelle Repression.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Hüseyin Çiçek ist Politik- und Religionswissenschaftler und lehrt als Privatdozent am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien und als Gastprofessor an der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud Privat Universität.
Verwendete Quelle
- Gespräch mit Dr. Hüseyin Çiçek
- X-Profil von Ekrem Imamoglu