Kurz vor der Präsidentschaftswahl und ein knappes halbes Jahr nach einer gescheiterten Kriegsrechtserklärung taumelt Südkorea zwischen Ordnung und neuem Chaos. Selbst der Favorit auf den Wahlsieg müsste nach einem Wahlsieg noch ums Amt zittern.
Für Yoon Suk-yeol ist es mittlerweile ein gewohnter Gang: Auch diese Tage erschien er wieder vor Gericht, um sich zu erklären, was er da im Dezember getan hat: Der Ex-Präsident Südkoreas rief am 3. Dezember 2024 überraschend das Kriegsrecht aus, verübte praktisch einen Anschlag auf die Demokratie. Kurz darauf wurde er durch das Parlament seines Amtes enthoben, muss sich nun auch in einem Strafprozess verantworten. Im Fall eines Schuldspruchs drohen ihm lebenslange Haft oder die Todesstrafe.
Der Rechtspopulist Yoon, der seine Kriegsrechtserklärung mit einer vermeintlichen Unterwanderung der Parlamentsopposition durch das verfeindete Nordkorea rechtfertigte, sieht sich bis heute im Recht. Ein Freispruch gilt aber als unwahrscheinlich: Nicht nur fehlen Yoon offenbar die Beweise für seine Thesen, sondern es wurde auch bekannt, dass es Verhaftungslisten seiner politischen Gegner gab sowie die Erlaubnis für Soldaten, zu schiessen. Das Land wartet auf das Urteil.
Wahl in Südkorea: Über beide Kandidaten ragen Zweifel
Was für den Fortbestand der Demokratie im ostasiatischen Land grosse Bedeutung hat, ist aber diese Tage schon nicht mehr das Wichtigste im politischen Südkorea. Denn am heutigen 3. Juni wird nun in einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl Yoons Nachfolger bestimmt. Doch was als Rückkehr in geordnete Verhältnisse gelten müsste, könnte auch die Fortführung von Südkoreas Staatskrise werden: also ein Zustand ohne funktionierende Regierung, ohne Planungssicherheit. Denn über beide Kandidaten, die die Wahl gewinnen könnten, ragen Zweifel.
Auf der einen Seite ist da der Mann, der Yoon in der rechtsgerichteten People’s Power Party (PPP) beerben will. Kim Moon-soo, zuvor Arbeitsminister unter Yoon, gibt sich im Wahlkampf als Freund der Demokratie, Gegner der Kriegsrechtserklärung. "Aber diese Haltung hat er erst vor Kurzem angenommen", kommentiert Moon Chung-in, Professor für Politikwissenschaften an der Seouler Yonsei Universität. "Vorher war Kim auf der Seite von Yoon. Mit ihm gäbe es in vielerlei Hinsicht wohl eine Fortführung der vorigen Linie."
Der seines Amts enthobene Yoon regierte in einem autoritär anmassenden Politikstil, liess immer wieder die Staatsanwaltschaft auf politische Feinde los, ging ausserdem gegen kritische Presse vor. Würde Kim Moon-soo gewählt, wäre allerdings nicht klar, wie lang er überhaupt sich im Amt halten könnte. Indem nämlich die liberale Demokratische Partei (DP) im Parlament bisher die Mehrheit hält, könnte sie diverse Vorhaben eines rechtsgerichteten Präsidenten boykottieren – wie sie es zuvor mit Yoon gemacht hat.
Eine weitere PPP-geführte Regierung, ohne gründliche Aufarbeitung der Causa Kriegsrecht, könnte daher kurzlebig sein. Die politischen Lager sind jedenfalls zutiefst zerstritten in Südkorea – ähnlich wie die PPP selbst. "Sollte Kim gewinnen, wird sich die PPP kaum verändern", erwartet Moon, was er für die Demokratie im Land für ungünstig hielte. "Falls er verliert, übernimmt innerparteilich womöglich jene Faktion, die gegen das Kriegsrecht war. Oder aber die Partei spaltet sich auf."
Lee Jae-myung gilt als Wahlfavorit
Der Ausgang ist offen, wobei PPP-Kandidat Kim in den letzten Umfragen vor der Wahl um die mehr als zehn Prozent hinter dem Wahlfavoriten lag: Lee Jae-myung von der liberalen DP. Der 61-Jährige unterlag in einem schmutzigen Präsidentschaftswahlkampf 2022 nur hauchdünn gegen Yoon Suk-yeol, hat seitdem eine effektive Oppositionspolitik betrieben, die der PPP das Leben schwergemacht und vor allem in der chaotischen Nacht des 3. Dezember das Kriegsrecht abzuwenden geholfen hat.
Lee und seine DP stehen also deutlich eher für den Erhalt einer liberalen Demokratie als derzeit die PPP. Nur ist ungewiss, für wie viel Stabilität ein Wahlsieg von Lee Jae-myung wirklich sorgen würde. Lee hängt ein Verfahren an, in dem ihm vorgeworfen wird, im zurückliegenden Präsidentschaftswahlkampf Falschaussagen getätigt zu haben. Nachdem Lee – den sein politischer Gegner und Ex-Präsident Yoon Suk-yeol wohl ausser Gefecht setzen wollte – schon freigesprochen worden war, wurde das Urteil zuletzt auf umstrittene Weise einkassiert. Nach der Wahl wartet nun ein neues Urteil. Bei Schuldspruch könnte Lees Karriere gar als Präsident wieder enden.

Bei all dieser Unsicherheit werden politische Inhalte beinahe schon vergessen: Favorit Lee, der im wirtschaftspolitisch sehr marktliberalen Land einst als weit links galt, weil er eine Art Mini-Grundeinkommen forderte, ist mittlerweile ins Zentrum gerückt. Für das ökonomische Wohlergehen des Landes schwört er nunmehr auf die Zugkraft grosser Unternehmen. Aussenpolitisch will Lee neues Zutrauen zu Nordkorea aufbauen, mit dem sich die PPP so sehr verkracht hat, dass es regelmässig Kriegsdrohungen beider Seiten gab.
Wobei sich solche Überlegungen dieser Tage wie nicht viel mehr als Szenarien anfühlen. Denn was nach der Wahl geschieht, ist ungewiss. Nicht nur, weil Südkorea zerstritten ist, auf beiden Lagern das Vertrauen und Politik und Justiz erschüttert worden ist. Sondern auch, weil niemand weiss, wie lang sich die Person, die aus dem Wahlkampf nun siegreich hervorgeht, überhaupt im Amt halten wird.
Verwendete Quellen
- Interview mit Moon Chung-in, Professor, Yonsei Universität
- Yonhap News Agency: Ex-President Yoon attends 5th hearing of insurrection trial
- Yonhap News Agency: Lee, Kim in last-minute push for swing voters on final day of early voting
- dw.com: South Korea: Is Lee Jae-myung set for presidency?
- Yonhap News Agency: DP's Lee vows 'pragmatic' diplomacy, to solidify 3-way cooperation with U.S., Japan