Die arabische Halbinsel wird seit Jahren mit Captagon aus Syrien und dem Libanon überschwemmt. In den vergangenen Monaten wurde die Droge auch bei Razzien in Deutschland gefunden – und das Bundeskriminalamt warnt vor der steigenden Bedeutung des Amphetamins. Welche Rolle spielt Captagon in Deutschland? Und was hat der syrische Diktator Assad damit zu tun?

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Monatelang hatten die Beamten des Zollfahndungsamtes (ZFA) Essen Telefone abgehört, Lieferlisten gecheckt und Warenströme durchleuchtet. Am 7. Oktober klickten dann die Handschellen. Vier Syrer wurden an diesem Herbsttag im Raum Aachen verhaftet, nachdem die Fahnder in einem Garagenkomplex an der Autobahn rund 300 Kilogramm der Droge Captagon entdeckt hatten – versteckt zwischen 16 Tonnen Sand. Gemeinsam mit Funden an den Flughäfen Köln/Bonn und Leipzig/Halle lasten die Behörden dem Quartett den Schmuggel von 460 Kilogramm des Amphetamins an. Strassenverkaufswert: Rund 60 Millionen Euro.

Dass die Syrer in das Fadenkreuz der Ermittler gerieten, ist wohl aufmerksamen Zollbeamten am grössten deutschen Frachtflughafen Leipzig/Halle zu verdanken. Sie wurden beim Durchleuchten eines Pakets, das zur Ausfuhr nach Saudi-Arabien gedacht war, misstrauisch. Statt Duftkerzen, wie es der Lieferschein auswies, fanden die Beamten bei genauerem Hinsehen mehrere Pakete mit Captagon. Dass das Bundeskriminalamt (BKA) nach dem Ausheben eines Drogenlabors in Regensburg, bei dem Rohstoffe für die Produktion von rund drei Tonnen des Amphetamins lagerten, zuletzt um verschärfte Wachsamkeit gebeten hatte, dürfte in diesem Zusammenhang geholfen haben.

EU-Behörde warnt vor steigender Attraktivität der EU als Umschlagplatz

Im Vergleich zu den Mengen an Captagon, die jedes Jahr vor allem per Luft- und Seefracht umgeschlagen werden, sind die in Leipzig, Aachen oder Regensburg gefundenen Mengen zwar mickrig. So schätzt das auf Syrien spezialisierte Center for Operational Analysis and Research (COAR), dass allein aus Syrien – dem grössten Produktionsland von Captagon – jährlich Mengen mit einem Strassenverkaufswert von mindestens 3,46 Milliarden US-Dollar exportiert werden.

Dennoch warnt das BKA vor der wachsenden Bedeutung Deutschlands als Umschlagplatz für Lieferungen in den Nahen Osten. Ein aktueller Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) untermauert diesen Befund. Darin heisst es, dass zwischen 2018 und 2023 rund 127 Millionen Tabletten (rund 1,7 Tonnen) an Captagon in EU-Mitgliedstaaten gefunden wurden. Den grössten Fund gab es dabei mit 84 Millionen Tabletten 2020 im italienischen Salerno. Was die Behörden ausserdem besorgt: Zunehmend werde Captagon auch in Europa hergestellt, vor allem in illegalen Labors in den Niederlanden.

Eine Ursache für den Transit über Europa ist, dass die Behörden in Saudi-Arabien – dem Hauptimporteur von illegalen Captagon-Lieferungen – bei Containern aus dem Libanon und Syrien – den beiden Hauptproduktionsländern – inzwischen genauer hinschauen. Schmuggler nehmen daher den Umweg über Europa in Kauf, wo die Droge mit sogenannter Tarnware umgepackt wird und dann per Flugzeug oder Schiff nach Saudi-Arabien und in benachbarte Länder geliefert wird.

Das ist teurer, angesichts der enormen Marge, die bei der Produktion von Captagon erzielt wird, aber trotzdem ein lukratives Geschäft. "Um die Herkunft der Tabletten zu verschleiern, werden sie häufig über europäische Häfen transportiert, bevor sie in ihrem eigentlichen Bestimmungsland ankommen", heisst es in einer Stellungnahme des BKA.

Die geschärfte Aufmerksamkeit der Behörden in Saudi-Arabien liegt vor allem daran, dass die arabische Halbinsel schon seit Jahren von Captagon überschwemmt wird. Zwar haben fast alle Länder in der Region strenge Drogengesetze für diejenigen, die beim Handel erwischt werden. Das hat bislang aber nicht verhindert, dass vor allem junge Männer nach der vermeintlichen Lifestyle-Droge süchtig sind.

Nach Zahlen des saudischen Innenministeriums sind rund 200.000 Menschen in dem Land abhängig. Die Dunkelziffer dürfte die offiziellen Zahlen bei weitem überstiegen, was sich etwa daran ablesen lässt, dass allein auf Saudi-Arabien zwischen 2015 und 2019 mehr als 45 Prozent der weltweiten Beschlagnahmungen entfielen.

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Captagon gilt als "Kokain des kleinen Mannes"

Bei Konsumenten ist Captagon, dessen Wirkung auf das Nervensystem ähnlich ist wie die von Amphetaminen wie Ecstasy oder Meth, vor allem aufgrund des günstigen Verkaufspreises beliebt. Als Psychostimulans kann die auch als "Kokain des kleinen Mannes" bezeichnete Droge zu Euphorie, erhöhter Wachsamkeit und gesteigerter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit führen, zugleich soll sie aber starke Nebenwirkungen haben. Von Halluzinationen, Angstzuständen oder Herz-Kreislauf-Beschwerden ist die Rede. Das ist mithin ein Grund, warum der Verkauf in den meisten westlichen Staaten bereits in den 1980er-Jahren verboten wurde.

Seitdem hat sich die Produktion der weissen Pille immer weiter gen Osten verlagert. In den 80er-Jahren zuerst auf den Balkan, nach Bulgarien und in die Türkei. Nach der Jahrtausendwende dann nach Libanon und Syrien. Besonders Syrien, das von Diktator Bashar al-Assad regiert wird, hat sich seit dem Bürgerkrieg 2011 zu so etwas wie dem Drogenstaat des Nahen Ostens entwickelt und gilt nach Schätzungen der britischen Regierung als Ursprungsort für rund 80 Prozent des weltweiten Captagons.

Ein Grund dafür ist ausgerechnet die desolate Wirtschaftslage des Landes: Zur Herstellung von Captagon braucht man weder grosse Kenntnisse noch komplizierte Labore, sondern lediglich eine Dragee-Maschine, wie sie auch bei der Gummibärchen-Herstellung genutzt wird. Welche Bedeutung Captagon damit für die syrische Wirtschaft hat, lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass die exportierte Menge fast einem Drittel der gesamten syrischen Wirtschaft entspricht und die legalen Exporten des kriegsgebeutelten Landes übersteigt.

Die Behauptung des syrischen Regimes, man habe mit dem Geschäft nichts zu tun, ist daher unglaubwürdig. De facto gehört der Captagon-Handel inzwischen zu den lukrativsten Einnahmequellen der Assad-Regierung.

Denn als Diktator Bashar al-Assad im Mai vergangenen Jahres nach zwölf Jahren Ausschluss wieder in die Arabische Liga, eine Art arabischer EU, aufgenommen wurde, vermuteten politische Beobachter dahinter auch einen Kuhandel zwischen den Staaten der arabischen Halbinsel und Syrien. Diese hätten sich vorher von Assad zusichern lassen, dass dieser im Gegenzug für die Aufnahme sowie gegen eine Zahlung von vier Milliarden Dollar die Captagon-Schwemme unterbindet. Wie Bloomberg berichtet, könnte Assad dieses politische Faustpfand auch in Europa einsetzen. So sollen Diplomaten warnen, dass Assad EU-Staaten in Zukunft bewusst mit Captagon überschwemmen könnte, um damit die Lockerung von Sanktionen zu erpressen.

Captagon könnte im Israel-Krieg eine Rolle spielen

In Syrien und der arabischen Welt spielt Captagon auch noch eine weitere, weitaus dunklere Rolle. Denn es sind bei weitem nicht nur junge Menschen in Ryad, Dubai oder Jeddah, die sich an der Wirkung von Captagon erfreuen. Bekannt ist seit langem, dass auch Kämpfer des Islamischen Staates (IS), der Al-Nusra-Front oder der Freien Syrischen Armee (FSA) mit dem Verkauf gute Einkünfte erzielen und ihre Kämpfer gleichzeitig aufputschen.

Das brachte der vermeintlichen Lifestyle-Droge auch den Namen "Dschihadisten-Droge" ein. Nach Angaben der israelischen Armee sollen nun auch Elitetruppen der Terrorgruppe Hamas bei dem Massaker an Israelis am 7. Oktober dieses Jahres Captagontabletten bei sich getragen haben. Beweise dafür gibt es aber bislang nicht.

Deutschland, so das BKA, wird hauptsächlich als Transitland für Captagon genutzt. Bislang gibt es keine Indikatoren, dass die Droge hierzulande auch bei Konsumenten auf dem Vormarsch sei. Das liegt allerdings auch an den fehlenden Lagebildern zum Konsum der Droge in Deutschland. Die Antwort des Bundesdrogenbeauftragten auf eine Anfrage des ZDF zeigt, dass man zumindest wachsam ist: Es sei wichtig, "auch migrantische und nicht-deutschsprachige Communities mit Präventions- und Suchthilfeangeboten zu erreichen".

Verwendete Quellen

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