Es gilt als eines der rätselhaftesten Verbrechen der skandinavischen Geschichte: Im November 1970 fanden Wanderer im abgelegenen Eistal (Isdalen) nahe der norwegischen Stadt Bergen die verkohlte Leiche einer Frau. Bis heute ist ungeklärt, wer die geheimnisvolle Reisende mit mehreren Decknamen war.
Bereits der Tatort wirkt bizarr: Wanderer entdeckten Ende November 1970 einen verbrannten Körper, alarmierten die Polizei, und die Beamten stellten Seltsames fest. Zwar war die Leiche stark verkohlt, doch der Rücken wies keine Brandspuren auf; Armbanduhr und Schmuck lagen sorgfältig um den Körper drapiert. Aus sämtlicher Kleidung waren die Etiketten entfernt. Mangels anderer Hinweise gab man der toten Frau den Namen ihres Fundorts: Isdal‑Frau.
Wenige Tage später stiessen Ermittler in einem Schliessfach des Bahnhofs Bergen auf zwei Koffer. Darin befanden sich Kleidung, mehrere Perücken, norwegisches und deutsches Bargeld, ein Zettel mit Codes sowie ein Kassenbeleg über ein Paar Gummistiefel. Die Polizei wähnte sich nahe an der Identifikation der Leiche.
Isdal-Frau: Ausländischer Akzent und falsche Namen
Über den Gummistiefel‑Beleg führte die Spur zu einem Hotel in der südnorwegischen Stadt Stavanger, in dem die Frau kurz zuvor als "Fenella Lorch" eingecheckt hatte. Der auf Deutsch ausgefüllte Meldeschein entpuppte sich als Fälschung: Als Passbehörde war "Brüssel Kreisleitung" angegeben - eine Institution, die nur während der deutschen Besatzung Belgiens während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis benutzt wurde.
Im Verlauf der Ermittlungen tauchten sieben weitere Aliasnamen auf. Zeugen beschrieben die Frau als elegant, selbstbewusst und stets modisch gekleidet; sie habe Englisch mit deutschen Einsprengseln gesprochen und in Hotels häufig die Zimmer gewechselt, mitunter dreimal täglich.
Norwegen war für Geheimdienste attraktiv
Schon bald kursierte die Theorie, die Unbekannte könne Spionin gewesen sein. Zu Zeiten des Kalten Krieges war Norwegen - mit seiner Grenze zur Sowjetunion - ein beliebtes Betätigungsfeld sowjetischer Agenten.
Auch israelische Mossad‑Agenten wurden wiederholt im Land gesichtet und operierten teils ohne Rücksicht auf Verluste, wie das politische Attentat in Lillehammer 1973 zeigt, als der unbescholtene Ahmed Bouchiki mit einem Terroristen verwechselt und ermordet wurde.
Jahrzehnte später räumte der norwegische Geheimdienst ein, im Fall der Isdal‑Frau ermittelt zu haben.
Der Code wird geknackt
Die Polizei entzifferte schliesslich die im Koffer gefundenen Codes, doch das Ergebnis war zunächst ernüchternd: Es handelte sich lediglich um Reisedaten und ‑ziele.
Zur gleichen Zeit ergab die Autopsie, dass die Frau 50 bis 70 Schlaftabletten geschluckt hatte und beim Verbrennen noch eine kurze Zeit gelebt hatte. Der damalige Polizeichef legte sich auf Suizid fest. Demnach könnte die Frau eine psychisch kranke Edel-Prostituierte gewesen sein, was die gefundenen Perücken und Decknamen erklären würde. Noch heute sorgt diese Theorie für reichlich Diskussion. Doch schon damals zweifelten viele Beamte an einem so aufwendig inszenierten und schmerzhaften Freitod.
1971 wurde der Fall als Cold Case zu den Akten gelegt; die Unbekannte erhielt ein katholisches Begräbnis in einem Zinksarg, um eine spätere Exhumierung zu ermöglichen. Bis heute meldete sich niemand, der sie kannte.
Journalistische Nachforschungen
2016 rollten der norwegische öffentlich-rechtliche Rundfunk "NRK" und die "BBC" den Fall neu auf. Isotopenanalysen der Zähne und andere DNA-Proben, die in internationaler Kollaboration analysiert wurden, deuteten darauf hin, dass die Frau aus dem Grenzgebiet Süddeutschland - Ostfrankreich - Benelux stammte und etwa 40 Jahre alt war.
Zum Zeitpunkt der ursprünglichen Ermittlungen wurde sie auf 25 geschätzt. Diese Daten wurden auch bei der internationalen Recherche als Grundlage genommen.
2023 veröffentlichte die "Neue Zürcher Zeitung" eine Recherche, nach der die Isdal‑Frau vom Schweizer Bankier François Genoud ermordet worden sein könnte.
Nazis und Terroristen
Genoud, glühender Nationalsozialist und Besitzer einer Privatbank in Genf, unterstützte demnach den palästinensischen Terroristen Wadi Haddad. Haddad entführte drei Flugzeuge, darunter eines von Swiss-Air. Genoud brachte den Terroristen wohl unbemerkt in die Schweiz und nach Frankreich.
Diese Aufenthaltsorte in Paris, Lausanne und Genf decken sich ziemlich genau mit den Reiserouten der Isdal‑Frau. Zudem hatte Genoud während des Krieges im belgischen Grenzgebiet für den deutschen Geheimdienst "Abwehr" gearbeitet - eine mögliche Erklärung für den Verweis auf die "Brüssel Kreisleitung".
Genoud hätte also über die Netzwerke und finanziellen Mittel verfügt, um der Isdal-Frau die verschiedenen Identitäten, Reisen und Hotels zu ermöglichen.
Spur zum "schweren Wasser"
Welche Rolle spielte die Isdal‑Frau? Eine Hypothese führt zum "Schweren Wasser", das für die Produktion von Atomwaffen benötigt wird. Schon die Wehrmacht hatte entsprechende Anlagen in Norwegen besetzt.
1970 versprach die norwegische Regierung, fünf Tonnen Schweres Wasser an Israel zu liefern, offiziell zur Stromerzeugung für den Reaktor Dimona. Möglicherweise sollte die Isdal‑Frau im Auftrag Genouds diese Lieferung auskundschaften oder sabotieren.
Möglicherweise bezahlte sie im Anschluss mit ihrem Leben, weil sie als Doppelagentin entlarvt wurde oder sogar versuchte, Genoud zu erpressen. Oder aber, weil sie nach erfüllter Aufgabe dem Bankier einfach nicht mehr von Nutzen war und er keine Zeugen hinterlassen wollte.
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Obwohl es für alle Möglichkeiten Indizien gibt, ist keine Theorie bis heute stichhaltig bewiesen. Die Identität der Frau, die 1970 im norwegischen Eistal ihr Leben lassen musste, ist bis heute nicht geklärt.
Verwendete Quellen
- nrk.no: Do you remember this woman?
- bbc.com: Isdal Woman: The mystery death haunting Norway for 46 years
- TV-Doku über den Fall: srf.ch: Prostitution, Spionage oder Terror? Die mysteriöse Isdal-Leiche
- nzz.ch: Death in Ice Valley - New Lead in Isdal Woman Case Points to Swiss Banker
- i-med.ac: Wer ist die Isdalen Frau? Innsbrucker Gerichtsmedizin unterstützt Ermittlungen