Das Foto des toten Jungen Alan Kurdi ging 2015 um die Welt. Fünf Jahre danach ist das Sterben im Mittelmeer nicht beendet - und rechtliche Fragen sind weiterhin ungeklärt.

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Der kleine Körper, gekleidet in ein rotes T-Shirt und eine blaue Hose, lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Das Bild des syrischen Jungen Alan Kurdi ging vor fünf Jahren um die Welt.

Am 2. September 2015 wurde der Leichnam des Zweijährigen am Strand des türkischen Bodrum angespült. Er, sein Bruder und seine Mutter waren beim Versuch ums Leben gekommen, mit einem Schlepperboot auf die griechische Insel Kos überzusetzen.

Das Foto des toten Jungen markierte für Europa einen Wendepunkt. Vor der humanitären Katastrophe konnte von diesem Moment an niemand mehr die Augen verschliessen. Zwei Tage später, am 4. September 2015, beschloss Bundeskanzlerin Angela Merkel, die deutschen Grenzen für zunächst 22.000 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak zu öffnen. Danach kamen noch deutlich mehr. Europa erlebte eine grosse Fluchtbewegung, die Diskussionen und der Streit darüber beschäftigten den Kontinent auf Jahre.

Und heute? Themen wie Klimawandel und Coronakrise haben die Situation der Geflüchteten zum Teil aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Dabei sind nach Angaben des UNO-Flüchtlingskommissariats UNHCR derzeit weltweit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und Verfolgung - so viele wie nie zuvor.

Im Jahr 2020 bisher mehr als 500 Tote im Mittelmeer

Nach Angaben des UNHCR sind im Jahr 2020 bisher rund 48.000 Geflüchtete nach Europa gekommen. Mehr als 43.000 davon - also die übergrosse Mehrheit - gelangten über das Meer nach Spanien, Italien, Malta, Zypern oder Griechenland.

Das Projekt "Missing Migrants" der Internationalen Organisation für Migration geht davon aus, dass seit Januar 514 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer umgekommen sind oder vermisst werden. Betroffen ist vor allem die zentrale Route aus Libyen.

Die Daten lassen sich unterschiedlich interpretieren. 2016 lag die Zahl der Toten und Vermissten laut "Missing Migrants" zum Beispiel noch bei 3.230, war also etwa sechsmal so hoch.

Allerdings ist dem Sterben weiterhin kein Ende gesetzt. Seit Start des Projekts im Jahr 2014 sind insgesamt mindestens 20.180 Menschen bei der Fahrt über das Mittelmeer gestorben oder verschwunden.

"Was fehlt, ist eine EU-Regelung"

An der rechtlichen Lage hat sich seit dem Tod von Alan Kurdi wenig verändert. Wie mit Schiffbrüchigen umzugehen ist, ist im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen festgelegt.

"Grundsätzlich ergibt sich aus Artikel 98 die völkerrechtliche Pflicht für alle Mitgliedsstaaten, Menschen zu retten", erklärt Stephan Kolossa, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht an der Universität Bochum. "Ein Kapitän muss jedem Schiff, das in Seenot gerät, Hilfe leisten. Dafür ist unerheblich, aus welchem Grund die Menschen in Not geraten sind."

Die Frage sei jedoch, was unter Hilfeleistung zu verstehen ist. In den vergangenen Jahren sorgten mehrere Fälle für Diskussionen, in denen privaten Rettungsschiffen die Einfahrt in Häfen in Italien oder Malta verboten wurde. "Falls nötig, müssen Personen auf das eigene Schiff geladen und an einen sicheren Ort gebracht werden", sagt Kolossa.

"Das heisst aber nicht zwingend, dass sie direkt in den nächsten Hafen gebracht werden müssen." Es bestehe auch grundsätzlich kein Recht auf Ausschiffung - dass also die Personen in einem bestimmten Hafen von Bord gelassen werden.

"Was fehlt, ist eine Regelung der EU, die sich dem Thema widmet", sagt Kolossa. "Darin müsste vor allem festgelegt werden, wie die Mitgliedstaaten mit Schiffen umgehen, die gerettete Menschen an Bord haben. Eine solche Regelung gibt es aber nicht, weil die Mitgliedstaaten sich politisch nicht einig sind."

Private Initiativen übernehmen Seenotrettung

Diese Uneinigkeit zeigt sich in mehreren Bereichen. Ursprünglich waren im Rahmen der EU-Marinemission "Sophia" Schiffe und Flugzeuge vor allem vor der libyschen Küste unterwegs, um gegen Schlepperbanden vorzugehen. Die Einsatzkräfte retteten zwischen 2015 und Frühjahr 2019 auch mehr als 40.000 Menschen aus Seenot.

Im April vorigen Jahres endete die Mission aber ohne eine Nachfolgeregelung. Einzelne EU-Staaten wie Österreich befürchteten, dass damit mehr Menschen ermutigt werden, nach Europa zu kommen. Ausserdem konnten sich die Mitgliedsstaaten nicht auf eine Verteilung der Geretteten einigen.

So widmen sich der Seenotrettung vorrangig private Initiativen wie "Mission Lifeline" und "Sea-Eye". Letztere hat ihr Rettungsschiff nach Alan Kurdi benannt. Am wohl bekanntesten ist die Organisation "Sea Watch", die eigenen Angaben zufolge bisher an der Rettung von mehr als 37.000 Menschen mitgewirkt hat.

Das Seenotrettungsschiff "Sea-Watch 4" hat am 15. August seine Mission begonnen und der Organisation zufolge danach in 48 Stunden 200 Menschen aus Seenot gerettet. Die "Sea-Watch 3" startete vor der libyschen Küste im Juni ihren ersten Einsatz seit Beginn der Corona-Pandemie. Sea-Watch-Flugzeuge suchen zudem Seegebiete nach Menschen in Not ab. Im Juli sichteten sie eigenen Angaben zufolge mehr als 1344 Personen.

Kritiker der privaten Seenotrettung werfen den Nichtregierungsorganisationen vor, dem Geschäft der Schlepper in die Hände zu spielen. Die Organisationen dagegen sehen in der Rettung von Menschen eine moralische Pflicht. Vor allem kritisieren sie, dass die private Seenotrettung nur nötig sei, weil die EU die Aufgabe vernachlässige.

Dramatische Situation auf griechischen Inseln

Die Balkan-Route, auf der im Spätsommer und Herbst 2015 die meisten Geflüchteten nach Zentraleuropa kamen, ist inzwischen abgeriegelt. Angespannt ist die Situation deshalb weiterhin dort, wo vor fünf Jahren auch Alan Kurdi und seine Familie landen wollten: auf den griechischen Inseln.

Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation "Pro Asyl" sitzen auf den griechischen Inseln derzeit rund 40.000 Menschen fest. Die Unterbringung sei menschenunwürdig, kritisiert die Organisation: Es mangele an Unterkünften, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung - gerade in Zeiten der Corona-Pandemie.

Über den Experten: Stephan Kolossa ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Stephan Kolossa
  • Internationale Organisation für Migration: Missing Migrants
  • ProAsyl.de: Flüchtlinge in Griechenland
  • Sea-Watch.org: Über uns
  • UNHCR, Operational Portal: Mediterranean Situation
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