Im September 2015 kamen innerhalb weniger Tage 67.000 geflüchtete Menschen am Hauptbahnhof München an. Behörden, Hilfsorganisationen und tausende Freiwillige packten an, um sie willkommen zu heissen. Eine Helferin und ein Helfer von damals erinnern sich.

Das zweite Wochenende des Septembers 2015 brachte die Stadt München endgültig an ihre Grenzen. Ein Zug nach dem anderen rollte im Hauptbahnhof ein, alleine am Samstag erreichten mehr als zehntausend geflüchtete Menschen die bayerische Landeshauptstadt.

Alle Unterbringungsmöglichkeiten waren bereits ausgelastet. Wohin also mit den Menschen? Die Stadt überlegte, die VIP-Lounge des Olympiastadions oder die Olympiahalle zur Unterkunft umzufunktionieren, Feldbetten waren aber längst nicht mehr verfügbar. Also wurde gegen 13 Uhr über die Medien ein Aufruf an Münchens Bürgerinnen und Bürger gestartet, Schlafsäcke und Isomatten zu spenden.

Die Hoffnung war, bis zum Abend genügend Schlafsäcke beisammen zu haben, um allen einen warmen Schlafplatz gewährleisten zu können. Das angepeilte Ziel wurde jedoch weit übertroffen, bereits nach zwei Stunden war das Dreifache der benötigten Menge gespendet worden.

Ein riesiger Berg von Schlafsäcken und Isomatten stapelte sich vor dem Elisenhof in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs, wo die Hilfe für die geflüchteten Menschen koordiniert wurde.

Ein Berg aus Schlafsäcken als Symbol für Hilfsbereitschaft

Dieser Berg aus Schlafsäcken ist Marina Lessig und Mischa Kunz, die damals am Hauptbahnhof halfen und die Arbeit der freiwilligen Helferinnen und Helfer koordinierten, in besonderer Erinnerung geblieben. In gewisser Weise ist er ein Symbol für die Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität, die vor zehn Jahren massgeblich dazu beitrug, die Ausnahmesituation am Münchner Hauptbahnhof zu meistern.

"Menschen sind einfach auf uns zugekommen und haben gefragt: Ich kann dies oder das, oder ich habe etwas, wie kann ich damit helfen? Dann haben wir kreativ zusammen überlegt. Das hat mir sehr gefallen. Dadurch können sehr viel mehr Lösungen entstehen, als wenn etwas fest vorgegeben ist", erinnert sich Lessig, die damals gerade ihr Studium beendet hatte und ehrenamtlich für den Kreisjugendring München-Stadt (KJR) arbeitete.

"Niemand hätte damit gerechnet, dass so viele Menschen helfen würden. Teilweise waren mehr Freiwillige als professionelle Helfer vor Ort. Das war schon toll", erzählt Kunz.

Rund 67.000 Menschen kamen in zwölf Tagen in München an

Am 4. September 2015 hatte die damalige Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) entschieden, angesichts der humanitären Notlage die zwischenzeitlich geschlossenen Grenzen wieder zu öffnen und Geflüchtete vorübergehend unregistriert einreisen zu lassen.

Tausende, die zuvor am Bahnhof Keleti in Budapest unter schlechten Bedingungen ausharrten, brachen nun zu Fuss, in Bussen oder Zügen aus der ungarischen Hauptstadt in Richtung Deutschland auf. Der Hauptbahnhof München wurde zum Hotspot, zwischen dem 4. und 15. September kamen dort rund 67.000 Menschen, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, an.

Viele von ihnen waren zuvor zu Fuss über die Balkanroute nach Budapest gelangt und entkräftet, verletzt, krank oder traumatisiert. Der Hauptbahnhof München wurde für sie zur improvisierten Erstaufnahmeeinrichtung. Dabei fehlte es zunächst so ziemlich an allem. Wasser, Nahrungsmittel, speziell Babynahrung, Kleidungsstücke und Schuhe, Hygieneartikel und Koffer für die Weiterreise mussten beschafft werden.

Den freiwilligen Helfern fehlte es an Organisation und Koordination

Die Behörden, die Polizei, die Feuerwehr und professionelle Hilfsorganisationen nahmen unverzüglich ihre Arbeit auf. Unterstützt wurden sie von Beginn an von hunderten, bald tausenden Freiwilligen wie Marina Lessig und Mischa Kunz. Doch den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern fehlte es zunächst an Organisation und Koordination.

Kunz erinnert sich an die Situation in den riesigen Hallen der Messe München, die ebenfalls als Notunterkunft dienten. An Hilfsbereitschaft und Spenden mangelte es nicht, doch es dauerte eine Zeit, bis sich die Abläufe gefunden und Strukturen gebildet hatten.

Kunz nutzte seine Organisationserfahrung als Leiter eines grösseren Unternehmens und richtete gemeinsam mit anderen Abteilungen ein, in denen beispielsweise gespendete Kleidung oder Schuhe sortiert und verteilt wurden.

Auch die Zusammenarbeit der Freiwilligen mit den professionellen Hilfsorganisationen und den Behörden funktionierte immer besser. "Ich habe die Hilfsorganisationen als sehr kompetent, engagiert und hilfsbereit empfunden. Aber es war eine Situation, die nach meinem Gefühl so vorher nicht geübt worden war - die Art der Notsituation und die Kombination aus Hilfsorganisationen und städtischer Verwaltung. Das hat einfach etwas Zeit gebraucht, bis es in Schwung gekommen ist", erinnert sich Kunz, der auch Erfahrungen aus seinem Engagement bei der freiwilligen Feuerwehr einbringen konnte.

Der Verein "Münchner Freiwillige – Wir helfen" hilft weiterhin Geflüchteten

Aus dem Engagement der freiwilligen Helferinnen und Helfer entstand der Verein "Münchner Freiwillige – Wir helfen", in dessen Vorstand Marina Lessig und Mischa Kunz heute aktiv sind.

Der Verein betreibt verschiedene spendenfinanzierte soziale Projekte in München, setzt sich für die Integration von Geflüchteten ein und fördert das ehrenamtliche Engagement von Bürgerinnen und Bürgern.

Nach den Ereignissen am Hauptbahnhof im September 2015 unterstützte der Verein die Stadt bereits in zwei weiteren Krisensituationen, während der Corona-Pandemie und bei der Ukraine-Hilfe.

Einzelne Begegnungen blieben in Erinnerung

Was den Helferinnen und Helfern vom September 2015 in Erinnerung geblieben ist und sie teilweise bis heute beschäftigt, sind die Einzelschicksale der Geflüchteten. Marina Lessig erinnert sich an die Begegnung mit zwei Jungen, die vielleicht acht oder neun Jahre alt waren und nachts in der Nähe der Mülltonnen eines Schnellrestaurants nach Nahrung suchten.

"Es hat ein bisschen gedauert, zu realisieren, dass da Kinder alleine übers Mittelmeer und quer durch Europa gereist waren", erzählt sie. Gemeinsam mit einem Dolmetscher und einem Polizisten gelang es ihr schliesslich, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen und sie zu überzeugen, sich zu einem Kinderheim bringen zu lassen.

Manche der ankommenden Geflüchteten hatten schwere Verletzungen, versuchten dies aber zu verheimlichen, da sie Angst hatten, dass ihnen daraus Nachteile erstehen könnten. Junge Mütter aus Somalia oder Eritrea, fast selbst noch Kinder, kamen mit ihren Babys in München an. Mischa Kunz erinnert sich an eine Frau, die erzählte, dass sie ihre kranke Mutter über weite Strecken auf dem Rücken von Griechenland nach Ungarn getragen habe.

Die Situation entspannte sich vor Beginn des Oktoberfests

Wie es mit diesen Menschen weiterging, wie es ihnen heute geht, wissen die Helferinnen und Helfer aus München nicht. Kontakt zu halten, tiefere Verbindungen aufzubauen, war aufgrund der grossen Anzahl an Geflüchteten nicht möglich.

Die Situation am Hauptbahnhof entspannte sich ab Mitte des Monats ein wenig. Den Behörden gelang es, einen grossen Teil der Züge in andere Städte umzuleiten, bevor am 19. September 2015 das Oktoberfest begann und zehntausende Wiesn-Besucher in den Hauptbahnhof strömten.

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Mit Solidarität, Herzlichkeit, harter Arbeit und unbürokratischer Hilfe war es gelungen, die Ausnahmesituation zu meistern und die geflüchteten Menschen willkommen zu heissen. Die ganze Welt blickte damals nach München und staunte, wie die ganze Stadt angesichts dieser Herausforderung zusammengerückt war.

Über die Gesprächspartner

  • Marina Lessig und Mischa Kunz erlebten im September 2015, wie innerhalb weniger Tage zehntausende Geflüchtete am Hauptbahnhof München ankamen. Lessig vertrat die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer im Krisenstab, Kunz koordinierte unter anderem die Hilfe in den Hallen der Messe München. Heute sind beide ehrenamtlich im Vorstand des Vereins "Münchner Freiwillige – Wir helfen" aktiv. Lessig als Vorstandsvorsitzende, Kunz als Finanzvorstand. Der Verein ist auf Spenden angewiesen, alle Informationen zur möglichen Unterstützung der sozialen Projekte gibt es unter www.muenchner-freiwillige.de.