Die Hungersnot in Gaza aus zwei Perspektiven: Ein Arzt vor Ort beschreibt den Kampf ums Überleben. Ein Experte in Israel spricht von Verdrängung, gleichzeitig wächst die Kritik an Netanjahus Kriegsführung.

Raketenangriffe, Flucht, Krankheiten, Hunger und Tod – jeder Tag ist ein Überlebenskampf für die Bewohner im Gazastreifen. Jeden Tag schwindet die Hoffnung mehr, den Ort lebendig zu verlassen. Gleichzeitig gibt es Menschen, die freiwillig nach Gaza gehen. Einer von ihnen ist Mohammed Fadlalla, ein medizinischer Einsatzleiter von "Ärzte ohne Grenzen".

Eigentlich lebt er in den USA. Arbeitet als Facharzt für Innere Medizin in einem Krankenhaus in Ohio. Seit etwa sechs Wochen rettet er Menschen das Leben im Gazastreifen – jedenfalls versucht er es. Denn die Bedingungen sind katastrophal.

Fadlalla beschreibt die Situation als eine "humanitäre Tragödie von unglaublichem Ausmass". In seinen Sprachnachrichten, die er unserer Redaktion schickt, klingt er ruhig, aber müde. Für ein digitales Gespräch fehlt es ihm an Zeit, auch ist die Verbindung schlecht. "Es ist ein Punkt erreicht, an dem es keine Hoffnung mehr gibt", sagt er.

"Jeder leidet unter Hunger": Arzt schildert seine Eindrücke aus Gaza

Seiner Erfahrung nach steht die Bevölkerung am Rande des Hungertods, da die Menschen kaum noch Zugang zu den grundlegendsten Lebensmitteln erhalten, um sich selbst und ihre Familien zu ernähren. Darin sieht der Arzt das dringendste Problem, das alle Menschen in Gaza betrifft, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. "Jeder leidet unter Hunger, viele sehr stark, was sich an der Mangelernährung zeigt", führt er aus.

Im März hatte Israel die Hilfslieferungen in den Gazastreifen fast vollständig blockiert. Dies zielt darauf ab, den Druck auf die Terrororganisation Hamas zu erhöhen, die entführten Israelis freizulassen. Jüngst sorgten Aufnahmen der abgemagerten Geisel Evyatar David für Entsetzen. Israels Regierung will den Krieg in Gaza ausweiten, um diese Menschen nach Hause zu holen. "Ich verstehe genau, was die Hamas will. Sie will keinen Deal", sagt Regierungschef Benjamin Netanjahu in einer Video-Botschaft.

Am 7. Oktober 2023 überfiel die radikal-sunnitische Hamas Israel, tötete etwa 1.200 Menschen und verschleppte 251 als Geiseln nach Gaza. Netanjahu reagierte darauf mit grossflächigen Bombardierungen und Bodenoffensiven. Die Zustände in den Krankenhäusern wurden immer kritischer: kein Strom, kein Wasser, Operationen waren kaum möglich. Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" teilen mit der Aussenwelt, was sich vor Ort abspielt; darunter auch der US-Arzt Fadlalla.

Er ist im südlichen Gazastreifen, in einem chirurgischen Krankenhaus, im Einsatz. Eine grosse Herausforderung sei es, die Anzahl an Patienten zu bewältigen. "Alle Krankenhäuser in der Nachbarschaft sind überlastet. Es gibt nicht genug medizinische Kapazitäten, um die Menschen zu versorgen, insbesondere jene mit Schusswunden, Granatsplittern und Explosionsverletzungen", sagt er.

Als zweite Herausforderung nennt er die "extrem mangelernährte Bevölkerung".

Fehlende Nährstoffe: Wenn Wunden in Gaza nicht mehr heilen

Die Mangelernährung zeigt sich bei seinen Patienten etwa durch die schlechte Wundheilung. "Wenn es zu einer inneren Verletzung kommt und man eine Darmoperation durchführen muss, heilt der Darm nicht vollständig, wie es normalerweise der Fall wäre", sagt der Facharzt. Oft müssen die Betroffenen nach vier oder fünf Tagen erneut operiert werden. Die abgemagerten Körper sind mit der Wundheilung überfordert. Dazu kommt eine hohe Infektionsgefahr.

Auch seine palästinensischen Kollegen arbeiten mit leerem Magen oftmals 16 Stunden hintereinander. "Sie sind hungrig, müde und schwach. Sie verlieren an Gewicht", sagt Fadlalla. Damit sinkt auch die Leistungsfähigkeit. Dazu kommt der mentale Druck: Sie kümmern sich um Patienten, während sie selbst leiden und um ihre Familie fürchten.

Besonders nahe gehen Fadlalla die Geschichten seiner Kollegen, wie sie daheim beim gemeinsamen Essen vortäuschen, etwas zu kauen, während ihre Kinder alles bekommen, was es gibt. Nur wenn etwas übrig bleibt, gönnen sich die Eltern einen Bissen.

Gaza: Arzt ist über Tote bei GHF-Verteilzentren schockiert

Auch schockieren den US-Arzt Berichte über tragische Vorfälle an den Verteilzentren der "Gaza Humanitarian Foundation" (GHF), wo Menschen Mehl und Zucker erhalten sollen, aber offenbar Gewalt erfahren. Ein Mitarbeiter erzählte Fadlalla, dass sein Onkel und sein Neffe an einem Standort der GHF angeschossen wurden. Der Neffe starb sofort.

"Human Rights Watch" berichtet, dass zwischen dem 27. Mai und dem 31. Juli 2025 mindestens 859 Palästinenser getötet wurden, als sie versuchten, an den Standorten der GHF Hilfe zu erhalten. Diese Geschichten halten Fadlalla vor Augen, wie sehr seine Teamkollegen von diesem Krieg betroffen sind. Das einzige, was sie von den Patienten unterscheidet, sei am Ende, dass sie (noch) nicht verletzt sind.

"Wie ihre Patienten sind sie hungrig, müde und können diesem Krieg nicht entfliehen, was herzzerreissend ist, aber auch inspirierend, denn sie kommen seit zwei Jahren jeden Tag zur Arbeit", sagt er. Diese Hingabe zu sehen, verleiht ihm selbst Kraft, durchzuhalten.
Währenddessen wächst die Kritik aus dem Ausland an Israels Vorgehen im Gazastreifen. Frankreich will im September Palästina als Staat anerkennen, um den Friedensprozess im Nahen Osten voranzutreiben. Grossbritannien stellt solch einen Schritt in Aussicht. Auch in Tel Aviv rückt das Leid in Gaza zunehmend in den Fokus.

Israel: Wie Menschen in Tel Aviv die Hungersnot in Gaza wahrnehmen

"Die Hungersnot und die Katastrophe in Gaza blenden viele Menschen in ihrem Alltag aus. Jedoch wird das Thema immer präsenter", sagt Historiker Gil Shohat auf Anfrage unserer Redaktion. Er leitet seit 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Laut ihm haben die Demonstrationen und Protestaktionen zugenommen. Insbesondere das linke Anti-Kriegs-Lager habe durch seine kontinuierlichen Bemühungen dazu beigetragen, dass die Hungersnot in Gaza nicht mehr ignoriert werden kann. "Die israelische Bevölkerung sieht sich gezwungen, sich mit dieser Realität auseinanderzusetzen", sagt Shohat.

Kürzlich schrieb eine Gruppe von 600 pensionierten israelischen Sicherheitsexperten, darunter ehemalige Leiter von Geheimdiensten, einen Brief an US-Präsident Donald Trump, in dem sie Israel dazu auffordern, den Krieg in Gaza sofort zu beenden. "Unser professionelles Urteil ist, dass die Hamas keine strategische Bedrohung für Israel mehr darstellt", zitiert BBC die Experten.

Auch Israels Opposition äussert sich zunehmend kritisch zur Kriegsführung im Gazastreifen und wirft Netanjahu vor, es gehe ihm primär um sein politisches Überleben. Ein Kritikpunkt, den Familienangehörige der Geiseln schon länger äussern.

Israel-Medien greifen Hungersnot in Gaza vermehrt auf

In den israelischen Medien nimmt Shohat ebenfalls eine Veränderung wahr. Während regierungskritische Zeitungen wie Haaretz bereits seit Längerem über die "katastrophale genozidale Kriegsführung Israels in Gaza" berichten, haben nun auch andere Nachrichtensender begonnen, sich diesem Thema zu widmen, führt er aus.

Die Journalistinnen und Journalisten griffen "das Thema aber immer noch in einer sehr, sehr vorsichtigen Art und Weise auf. Sie sprechen von einer humanitären Krise, aber eben nicht von einer von Israel herbeigeführten Hungersnot", sagt Shohat. Der blutige Überfall der Hamas spiele alltäglich eine Rolle in den Medien. "Die Gesellschaft befinde sich noch immer in dem Trauma des 7. Oktober. Das macht sie empfänglich, die Situation in Gaza zu leugnen oder zu rechtfertigen, was wir vor allem auf der Regierungsseite sehen, auf der rechtsextremen Seite", meint der Israel-Experte.

Doch für die Israelis, die sich damit beschäftigen, was in Gaza geschieht, sei es "kaum auszuhalten". Diese Menschen fühlen sich laut Shohat machtlos gegenüber den Ereignissen, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe abspielen. Auch er stosse an seine Grenzen: "Es ist schwer zu ertragen, zu wissen, was so nah an einem passiert, während eine gewisse Normalität im Grossteil des Landes herrscht."

Empfehlungen der Redaktion

Er warnt davor, dass der Punkt erreicht sei, an dem es zu spät sein könnte, ein Massensterben durch die Hungersnot zu verhindern – selbst wenn jetzt mehr Hilfsgüter nach Gaza hineinkommen würden. Für ihn ist es "ein Versagen sondergleichen", vor allem weil es für alle sichtbar war und davor auch in Deutschland so lange von Experten gewarnt wurde.

Über die Gesprächspartner

  • Mohammed Fadlalla ist als medizinischer Einsatzleiter von "Ärzte ohne Grenzen" in Gaza tätig. Anfang 2020 begann er seine Arbeit bei der Hilfsorganisation und war bereits in mehreren Ländern im Einsatz. Er lebt als Facharzt für Innere Medizin in den USA.
  • Gil Shohat leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Als Sohn israelischer Eltern wuchs er in Deutschland auf und studierte Geschichte sowie Politikwissenschaft. Er publiziert regelmässig über die gegenwärtige deutsche Erinnerungskultur, Antisemitismus und die Situation in Israel und Palästina.

Verwendete Quellen