Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel rechnet mit einer furchtbar blutigen Frühjahrs-Offensive der Ukraine. Ein britischer Historiker geht davon aus, dass die USA ihr Engagement für Kiew spätestens im Herbst neu bewerten. Und Linken-Politikerin Mohamed Ali bekam Nachhilfe in Völkerrecht.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Thomas Fritz dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Besonders der Schlagabtausch zwischen Militärexperte Carlo Masala und Linken-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali hatte es in sich. Die Linken-Politikerin wirkte zeitweise ein wenig wackelig bei ihren Argumenten.

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Das war das Thema bei "Maybrit Illner"

Der Ukraine-Krieg geht in die nächste Phase. Die Frühjahrs-Offensive steht offenbar kurz bevor (oder hat je nach Lesart schon begonnen), während die USA doch noch den Weg für Kampfjet-Lieferungen frei gemacht haben. Gleichzeitig haben mit Kiew verbündete mutmassliche russische Nationalisten und Rechtsradikale einige Dörfer in der Region Belgorod erobert und damit im Kreml für Unruhe gesorgt. Das Thema bei Maybrit Illner: "Waffen, Sanktionen, Allianzen – die Ukraine kämpft um ihre Zukunft".

Das waren die Gäste

  • Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Für die FDP-Vorsitzende des Verteidigungsausschusses spielt es keine Rolle, dass beim Angriff auf die Belgorod-Region Nazis dabei waren. Es seien inzwischen eine Million Ukrainer unter Waffen. "Da werden sie nie ausschliessen, dass da welche dabei sind, die keiner will, keiner braucht. Das ist die grausame Logik des Krieges." Die Ukraine müsse diesen Krieg unbedingt gewinnen, damit es nicht weitere Kriege durch Russland in Europa gibt, warnte Strack-Zimmermann. Zu China äusserte sie sich auch: Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und die Überlegungen Europas, unabhängiger von China zu werden, stören Peking in ihren Augen. "Für China ist dieser Krieg lästig."
  • Sigmar Gabriel: Der frühere SPD-Bundesaussenminister rechnet mit blutigen Monaten in der Ukraine. "Wahrscheinlich stehen wir vor der schlimmsten Landschlacht seit dem Zweiten Weltkrieg. Das wird furchtbar." Gabriel sieht derzeit keinen Ausweg, weil beide Seiten den Krieg weiter wollen. Es rechnet mit viel mehr Opfern und "ganz viel Blutvergiessen" in der ukrainischen Armee, weil das Land in die Offensive gehen will. Gabriel glaubt, dass es nicht zu einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine kommt, sondern einer anderen Formen der Kooperation wie bei Israel oder Japan.
  • Amira Mohamed Ali: Die Linken-Fraktionschefin forderte wirtschaftlichen Druck durch Brasilien, China und Indien, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu Verhandlungen zu bewegen. "Man muss Wege finden, an den Verhandlungstisch zu kommen." Beim Territorium und damit auch bei Überlegungen, die Krim zurückzuerobern, müsse die Ukraine Kompromisse eingehen. Zudem kritisierte sie die Energiesanktionen gegen Russland, die uns mehr geschadet hätten als Moskau. "Deutschland befindet sich offiziell in einer Rezession, Russland nicht."
  • Adam Tooze: Der britische Wirtschaftshistoriker rechnet damit, dass die USA ihre massive finanzielle Unterstützung für die Ukraine im September zur UN-Vollversammlung neu bewerten könnten. "Sie wollen einen Ertrag sehen für diese Investitionen." Zudem gab er zu Bedenken, dass die Unterstützung für die USA zunehmend zu einer Option werde (erst recht unter einem republikanischen Präsidenten), für die EU ist sie wegen der Nähe zu Russland ein Muss. In der angekündigten Lieferung von F16-Kampfjets durch Washington sieht er wie Sigmar Gabriel ein Sicherheitspfand für die Ukraine. "Da geht es um die Ordnung danach, nicht um die Lösung der Krim-Frage." Tooze rechnet nicht mit einem öffentlichen Bruch Chinas mit Russland.
  • Carlo Masala: Der Militärexperte warnte davor, zu grosse Erwartungen an die ukrainische Frühjahrs-Offensive zu haben. Masala rechnet mit langsamen, langfristigen und eher kleinen Erfolgen. Man brauche ein Verhältnis von 3:1 oder 4:1 für einen erfolgreichen Angriff, rechnete er vor. "Das wird kein Durchmarsch." Mit Attacken wie in Belgorod, bei der US-amerikanische Humvees zum Einsatz kamen ("die stehen da nicht einfach herum"), würde die Ukraine Verwirrung stiften und das Schlachtfeld vorbereiten. Fakt ist: "Die Russen haben ein Problem mit ihrer Grenzsicherung", was auch die Drohnen-Attacke auf den Kreml gezeigt habe. In einem Punkt lobte Masala die Russen jedoch: Ihre Verteidigungslinien seien "vielleicht die besten seit dem Ersten Weltkrieg". Schliesslich wies der Experte darauf hin, dass es China bei seinem Engagement um eine Lösung des Ukraine-Kriegs auch darum gehe, mit den USA auf Augenhöhe zu reden.

Das war der Moment des Abends

Adam Tooze sorgte für einen Moment der analytischen Klarheit, indem er den Ukraine-Krieg in einen grossen Zusammenhang, ins "Big Picture", einbettete. "Die Weltlage hängt von Ereignissen auf dem Schlachtfeld ab. Das ist einmalig in der neueren Geschichte", fasste der Brite die Geschehnisse zusammen. Nun komme es in seinen Augen darauf an, wie die Würfel fallen.

Das war das Rededuell des Abends

Gleich zu Beginn brachte Moderatorin Maybrit Illner Mohamed Ali von der Linkspartei ins Schwitzen. Ob Angriffe auf russische Militäreinrichtungen in Russland legitim seien? "Zählt man das zur Selbstverteidigung dazu oder geht das darüber hinaus? Das ist ja die entscheidende Frage. Und das muss völkerrechtlich geprüft werden", drückte sich die Politikerin um eine klare Antwort.

Carlo Masala ging sofort dazwischen. "Das ist völkerrechtlich legal", betonte er. "Militärische Einrichtungen anzugreifen, ist völkerrechtlich legal". Mohamed Ali erwiderte kleinlaut: "Ja, aber wie stellen Sie denn sicher, dass dabei keine Zivilisten zu Tode kommen?"

Masala sagte, sie habe aber nach dem Völkerrecht gefragt. Er verwies auf einige Völkerrechtler, die sogar sagen würden: "Den Kreml anzugreifen, denn von dort wird dieser Krieg ja gesteuert, ist völkerrechtlich legal." Klarer Punktsieg für den Militärexperten bei diesem Schlagabtausch, bei dem die Linken-Fraktionschefin nicht den kompetentesten Eindruck machte.

So hat sich Maybrit Illner geschlagen

Illner war bestens vorbereitet und fragte immer wieder messerscharf nach. Einen kleinen Rüffel kassiert sie aber gegen Ende der Sendung von Masala und Strack-Zimmermann, als sie sagte, dass die Krim für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ukrainisches Territorium sei. Das klang so, als könnte es daran Zweifel geben, nur weil Russland seinerseits die Halbinsel am Schwarzen Meer beansprucht und seit 2014 besetzt hält.

"Die Krim ist ukrainisches Territorium", betonten beide fast zeitgleich. Am Ende hatte die Gastgeberin noch einen untypischen Patzer. Als die Sprache auf ein US-chinesisches Kommuniqué vor dem G20-Gipfel in Bali zur Verurteilung von Atomwaffeneinsätzen kam, verwechselte sie das mit der US-Warnung an China zu Taiwan (die fast zeitgleich abgegeben wurde).

Das war das Fazit

Carlo Masala rechnet zwar mit langsamen Erfolgen in der Frühjahrs-Offensive. Man könne aber nie ausschliessen, "dass die Ukraine vereinzelt massive Durchbrüche schafft". Zudem wies er darauf hin, dass Kiew mit den bald ankommenden britischen "Storm Shadow"-Raketen die erst vor einigen Jahren gebaute Brücke von Kertsch zwischen Russland und der besetzten Krim in Schutt und Asche legen könnte.

Sigmar Gabriel hegt die grosse Hoffnung, dass beide Seiten nach der Frühjahrs-Offensive eine Pause einlegen und Verhandlungen beginnen können. Er rechnet mit sehr "unangenehmen Entscheidungen", weil nicht jeder alles behalten kann, was er gern behalten würde. Es wäre von den USA klug, die Chinesen einzubinden und die Kontakte weiter zu intensivieren, sagt Gabriel, der befürchtet, dass Russland auf Dauer zu einer Art Schurkenstaat werden könnte.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fliessen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäss dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann hofft auf eine innere Dynamik in Russland durch die Risse zwischen der regulären russischen Militärführung und dem Chef der Söldner-Gruppe Wagner Prigoschin. Während sie früher Friedensverhandlungen mit Wladimir Putin immer kategorisch ausschloss, wollte sie dieses Szenario dieses Mal nicht ausschliessen. Ohnehin wirkte die FDP-Politikerin in ihren Aussagen etwas weniger konfrontativ als gewohnt.

Linken-Frau Mohamed Ali befürchtet, dass der Krieg durch immer mehr Waffenlieferungen weiter eskaliert. Das sah Historiker Tooze ähnlich. Er analysierte, dass die USA im Ukraine-Krieg mit ihren Verbündeten inzwischen die Chance ergreifen würden, Russland strategisch und militärisch zu schwächen (während die USA zu Beginn noch mehr auf Verhandlungen gedrängt hätten). Sigmar Gabriels Fazit: "Dieser Krieg hat den Westen geeint und die Welt gespalten." Die Frühjahrs-Offensive der Ukraine könnte diese Trends weiter vorantreiben.

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