US-Präsident Donald Trump kündigt einen harten Kurs gegen Russland an und visioniert vom ukrainischen Sieg. Doch Krieg folgt eigenen Gesetzen, die sich nicht in Trumps Mathematik pressen lassen. Experten sehen darin mehr Rhetorik als Realität.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Was Donald Trump beschreibt, klingt wie eine einfache Gleichung: Zeit + Geld + NATO = Sieg. Am Rande der UN-Vollversammlung sendete der US-Präsident am Dienstagabend so positive Signale in Richtung Ukraine wie selten zuvor. Auf seiner Social Media Plattform Truth Social schrieb er, die Ukraine sei mithilfe der Nato, EU-Geldern und etwas Zeit in der Lage, alle von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Trumps Vision vom ukrainischen Sieg ist ein Gedankenexperiment über Macht, Ressourcen und Zeit — drei Variablen, die in der Realität selten berechenbar sind. Kriege gehorchen keiner simplen Formel. Wie realistisch ist also seine Aussage?

Trump hatte nach einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Rande der UN-Generaldebatte in New York einen Richtungswechsel in seinem Ukraine-Kurs verkündet: Die Ukraine, schrieb er, sei in der Lage, den Krieg gegen Russland mithilfe westlicher Verbündeter vollständig zu gewinnen. Russland bezeichnete er als militärisch schwach und wirtschaftlich stark geschädigt. Noch martialischer klang er bei einer Pressekonferenz, als er befürwortete, dass russische Kampfjets im Falle einer erneuten NATO-Luftraumverletzung abgeschossen werden sollten.

Das ist ein Novum, denn in der Vergangenheit hatte der US-Präsident Russland und Putin häufig gelobt, die Ukraine als schwach bezeichnet und vor allem ein Ende des Krieges nur in Zusammenhang mit Gebietsabtretungen seitens Kiews in Aussicht gestellt.

Ralph Thiele: Krieg ist hochkomplex

Die USA begründen diesen angeblichen Kurswechsel mit den schleppend laufenden Friedensverhandlungen, die EU und die Ukraine selbst begrüssen den neuen, härteren Ton Trumps. Militärexperten wie Ralph Thiele und Gustav Gressel warnen davor, den Krieg in der Ukraine zu stark zu vereinfachen, und sehen in Trumps Äusserungen keine echte Kehrtwende.

Für Militärexperte Ralph Thiele liegt die einzige Konstante in Trumps Politik in seiner Unzuverlässigkeit. Krieg, so Thiele gegenüber unserer Redaktion, sei eine hochkomplexe Angelegenheit, die sich nicht mit einfachen Gleichungen erklären lässt. Entsprechend hält er Trumps Behauptungen, die Ukraine könne alle von Russland eroberten Gebiete zurückgewinnen, für realitätsfern. Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen seit Monaten mit erheblichem Personal- und Munitionsmangel und gleichen diese Lücken bislang vor allem durch den Einsatz von Drohnen aus.

Selbst wenn Nato und EU Waffen aus den USA beschaffen, um sie an die Ukraine weiterzugeben, stehen Kiew noch viel grössere Herausforderungen bevor: Logistik, Nachschub, Rekrutierungen und Ausbildung. Und auch wenn die Ukraine die Gebiete zurückerobern würde, müssten diese auch langfristig gesichert werden – eine Herkulesaufgabe. Thiele betont: Ohne nachhaltige, planbare Unterstützung und auch eine Ausweitung des Kampfgeschehens wäre ein Sieg der Ukraine kaum realisierbar. Diese sind aber weder bei den europäischen noch bei den US-Unterstützern der Ukraine derzeit vorstellbar.

Ohnehin sei Trumps Kalkül - das Modell der Waffenlieferungen - mehr ein Geschäftsmodell als wahre Unterstützung: Nato und EU kaufen Waffen in den USA, die dann an die Ukraine weitergereicht werden, während die Ukraine selbst im Rang seiner Prioritäten weit hinter ökonomischen und innenpolitischen Interessen sowie anderen Weltkrisen steht.

Das zeigte sich auch in seiner fast einstündigen Rede bei der UN-Vollversammlung, in der die Ukraine kaum Erwähnung fand, dafür aber gegen die Nato, die Europäische Union ausgeteilt wurde, die Klimakrise als Betrug bezeichnet und vor allem über den Krieg in Gaza gesprochen wurde.

Sollte Putin ihm ein symbolisches Zugeständnis machen, sei Trump absehbar sofort bereit, diesem zu folgen, sagt Thiele. Eine Kalkulation mit Widerrufsformel also.

Interessant ist zudem: Bisher hat Trump viel in Richtung Russland geknurrt. Eine ernstzunehmende Sanktion oder Massnahme blieb aber bislang aus. Stattdessen hat er bereits im Februar die Task Force Klepto Capture, die russische Oligarchen ins Visier nahm, aufgelöst und plant nun, die militärischen Hilfen für das Baltikum zu streichen.

Gustav Gressel: "Ich würde das nicht überbewerten"

Auch der Militärexperte Gustav Gressel sieht in Trumps jüngsten Äusserungen keinen ernstzunehmenden Wendepunkt. "Ich würde das nicht überbewerten", schreibt er auf Anfrage der Redaktion. "Trump hat mit Selenskyj gesprochen und gibt wieder, was er dort gehört hat. Mal sehen, was er nach dem nächsten Telefonat mit Putin sagt."

Russland sei in der Tat in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, wie Trump es auch in seinem Post bei Truth Social schilderte. Aber ob diese allein zu einer Beendigung des Krieges führen, bezweifelt Gressel. "Aus Trumps Sicht ist die wirtschaftliche Lage entscheidend, Putin hat eine andere Sicht auf die Welt." Wenn die Ukraine ihre Angriffe in die russische Tiefe fortsetzten könne, meint der Experte, könne sie Russland vor finanzielle Probleme stellen, den Krieg fortzusetzten. "Das ist aber ein Prozess, der seine Zeit braucht, und kontinuierlichen Druck der Ukraine."

Die Ukraine ihrerseits brauche Geld und militärische Unterstützung, um diesen Druck aufrecht zu erhalten. Dazu trage Trump allerdings nicht mehr bei, ausser Europäern zu erlauben US-Waffen zu kaufen. "Und dieser Prozess ist leider recht langsam und umständlich."

"Papiertiger" Russland: Trumps Kehrtwende im Ukraine-Krieg

Trumps mit Ansage im Ukraine-Krieg

Verliert US-Präsident Trump tatsächlich die Geduld mit Kremlchef Putin? Nach einem Treffen mit dem ukrainischen Staatschef in New York macht er eine Ansage, die aufhorchen lässt.

Viele Faktoren gehören in die Gleichung

Der Höhepunkt der Diskrepanz zwischen Trumps Mathematik und der Realität liegt aber an anderer Stelle: bei den militärischen Grundlagen. Gressel sagt: "Befreiung von Gelände ist komplizierter als es Trump darstellt." Russland ist derzeit in der Offensive und materiell den Ukrainern weit überlegen. Dem muss Kiew erst einmal standhalten, bis sich Russlands offensives Potential erschöpft hat. Das aber ist derzeit noch nicht abzusehen, sagt Gressel.

Zusätzlich dazu müsse die Ukraine eine Formel gegen russische First-Person-View-Drohnen (FPV) finden. Und zwar eine, die Russland nicht umgehend kopieren oder nachahmen kann, erklärt der Experte. "Denn ohne sich die FPV-Drohnen vom Hals zu schaffen, kann man Angriffe nur unter schweren Verlusten durchführen." Diese aber kann sich die Ukraine Gressel zufolge nicht leisten. "Die Ukraine bräuchte auch viele Mittel, um russische Verteidigungsstellungen zu überwinden." Dabei spricht er etwa von Panzerpioniergerät, um Sperren und Minenfelder zu räumen. Von Schützenpanzer, um Infanterie zu transportieren. Und einer Aufrüstung der Drohneneinheiten, die mobiler gemacht werden müssten, um bei einem Durchbruch rasch nachziehen zu können.

Die Arbeit von Pioniergerät könne die Ukraine mit Robotern leisten, bei Schützenpanzern wäre sie auf den Westen angewiesen. Aber: "Die USA waren der grösste Lieferant dieser Geräte, das ist ja jetzt Geschichte", sagt Gressel.

Hinzu kommt: der schwere Kampf um Rekruten. Es fehlt an Infanterie, Reserven sind kaum vorhanden. Für Offensiven, sagt Gressel, bräuchte es stärkere Kräfte, die derzeit nicht da sind. "Ich sehe in der Ukraine keine weitere Mobilmachung, die diese generieren würde und in Europa keine Initiative, um das Material bereitzustellen."

Empfehlungen der Redaktion

Am Ende bleibt die Ausgangsformel, die Trump so kühn präsentiert hat: Zeit + Geld + NATO = Sieg. Doch die Realität rechnet anders. Ohne Menschen, ohne verlässlichen politischen Willen und ohne Geräte, die über Nacht nicht beschafft werden können, bleibt die Gleichung unvollständig.

Über die Gesprächspartner

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmässig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Aussenpolitik bei Grossmächten.
  • Ralph Thiele ist Oberst a.D. und Diplom-Kaufmann. Nach seiner militärischen Karriere entschied sich Thiele für das zivile Leben und ist heute unter anderem Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft sowie Präsident von EuroDefense (Deutschland). Während seiner militärischen Laufbahn gehörte er etwa zum Planungsstab des Verteidigungsministers und zum Private Office des Nato-Oberbefehlshabers.

Verwendete Quellen