Polizisten schiessen ständig, die Kripo scheucht Streifenbeamte am Tatort herum und jede Woche gibt es einen Mord: Ist eigentlich alles auch in Wirklichkeit so, wie es der "Tatort" zeigt? Ein Polizeioberkommissar und ein ehemaliger Staatsanwalt räumen mit Krimi-Mythen auf.
Artie Abercrombie ist genervt, denn bei der Berufsbezeichnung geht es schon los. Ein Kommissar arbeitet bei der Mordkommission – das denken viele Menschen, sagt er.
Abercrombie ist selbst Kommissar, Polizeioberkommissar. "Aber ich bin nicht bei der Kripo." Der 55-Jährige trägt Uniform, er ist Streifenbeamter. Kommissar, so sagt er, ist ein Dienstgrad.
Warum viele falsch informiert sind? Wegen des "Tatorts", sonntags, 20:15 Uhr im Ersten. Die Berufsbezeichnung ist nicht das einzige, was ihn stört.
Abercrombies Revier ist Schlüchtern, eine kleine Stadt in Hessen, irgendwo zwischen Fulda und Frankfurt. Dort sitzt er im Schützenverein und erzählt. In seinen 38 Dienstjahren hat er hauptsächlich dort geschossen, nie im Dienst. "Aber ab und an zieht man mal die Waffe."
Polizist ärgert sich: "Der 'Tatort' will ja ernst sein"
Es gibt Krimis, über die er lachen kann, die "Eberhofer"-Filme zum Beispiel. Aber über "Tatort" oder "Polizeiruf" nicht. "Denn der 'Tatort' will ja ernst sein." Dann müsse auch stimmen, was dort von der Polizeiarbeit gezeigt werde.
Und das ist nicht der Fall? Nein, sagt Abercrombie. Ihn stört vor allem, wie Streifenbeamte in den Krimis dargestellt werden. Deren Verhältnis zu den Kripobeamten sei in der Realität anders, als die Filme vermittelten.
Ähnlich sieht das auch Thomas Brand. Der 71-Jährige hat bis vor wenigen Jahren als Staatsanwalt gearbeitet, zuerst in Darmstadt, später in Wiesbaden. Er sagt im Video-Gespräch mit unserer Redaktion: "Der 'Tatort' ist sehr nah an der Realität – und genau das ist das Ärgerliche." Denn: "Es sind oft Kleinigkeiten, die mit der Realität im Widerspruch stehen – und die mit künstlerischer Freiheit nicht zu entschuldigen sind."
Artie Abercrombie nennt ein Beispiel. Zwar unterstützen Streifenbeamte die Kripo bei den Ermittlungen, übernehmen mal eine Nachbarschaftsbefragung, das schon, jedoch: "Grossartig weisungsbefugt sind die von der Kripo aber nicht", so Abercrombie. Ihn ärgert, wenn die Streifenbeamten im Film nur das Flatterband am Tatort hochhalten, "damit der Kripobeamte durchlaufen kann. Der ist alt genug, das kann der selbst machen".
Dass solche Darstellungen das Bild von Streifenpolizisten prägen – das merkt Abercrombie auch im Privaten. Wer keinerlei Bezug zur Polizei habe, denke häufig: Streifenbeamte, "das sind die, die draussen blöd rumfahren und Verkehrskontrollen machen." Dabei werde übersehen, "dass wir praktisch alles machen. Dass wir diejenigen sind, die bei jedem Notruf erst mal hinfahren." Menschen aus Abercrombies Umfeld reagierten überrascht, wenn er erzähle, was seine Tätigkeit alles umfasst.
Ein weiteres Detail, über das sich Abercrombie ärgert: Im "Tatort" kommt es vor, dass eine Kommissarin sich mit gezogener Waffe einem Gebäude, in dem Schüsse fallen, nähert – und ihre Pistole durchlädt, bevor sie eintritt. "Was hätte sie denn gemacht, wenn da einer um die Ecke kommt?", fragt Abercrombie. "Dann würde sie erschossen!" Die Dienstwaffe sei durchgeladen im Holster zu tragen, "streifenfertig", wie Abercrombie das nennt. Und: In Hessen hätten die Waffen ohnehin keine Sicherung, "die Waffe kann man ziehen und direkt schiessen". Das filmreife Durchladen – völlig unnötig.
Kann er sich erklären, weshalb es dem "Tatort" nicht gelingt, ein realistisches Bild zu zeichnen? "Die Berater werden ein bisschen was machen", vermutet Abercrombie, "und hinterher sagen die Filmmacher: Da muss ein bisschen mehr Action rein."
Ist die Realität schlimmer als der "Tatort"?
Trägt der "Tatort" also zu dick auf? Ist die Realität so schlimm, wie es in Krimis dargestellt wird?
Abercrombie sagt, es sei in Wirklichkeit teilweise noch schlimmer. Würden die echten Fälle, die er erlebt, im Fernsehen gesendet, würden die Zuschauer sagen: Das ist übertrieben. Manches sei so brutal, "das kann man im Fernsehen eigentlich nicht zeigen".
Dem allerdings widerspricht der ehemalige Staatsanwalt Brand vehement. "Manches wird im Film eher zurückhaltender dargestellt", sagt er. Selbstmorde etwa, gerade was deren Methode angeht. Man wolle schliesslich keine Anleitungen liefern. "Aber ansonsten nehmen sich Film und Realität nichts", ist sein Fazit.
Wo der Film seiner Ansicht nach aber übertreibt: bei der Anzahl der Morde. Wer sich in Krimi-Deutschland umsieht, kann durchaus den Eindruck gewinnen, die Deutschen würden unglaublich gerne morden, jede Woche passiert mindestens einer. Das ist nicht die Realität, so wie Brand sie einschätzen würde. "Die Zahl der Morde ist im Fernsehen deutlich höher."
Ob das wirklich so ist, lässt sich aber gar nicht so eindeutig sagen. 730 Morde gab es im Jahr 2024 in Deutschland, das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor. Und wie häufig wird im "Tatort" gemordet? "Wir haben die 'Tatort'-Mordopfer nie gezählt", sagt Lars Jacob von der ARD-Programmredaktion auf Nachfrage unserer Redaktion. Es seien schlicht zu viele Redaktionen und Landesrundfunkanstalten an der Produktion beteiligt, inklusive Österreich und der Schweiz. "Es ist ja eine fiktive Serie, und natürlich gibt es deshalb in jeder Folge mindestens einen Mord – auch wenn deren Zahl im Ganzen dann höher liegen mag, als das in der Realität der Fall vielleicht ist."
Ein Problem wiederum, das beide, Staatsanwalt wie Polizist, erleben: Menschen gewinnen durch Krimis den Eindruck, in allen Fragen Bescheid zu wissen. Und glauben manchmal, sie wüssten es besser als die Profis selbst.
"YouTube- und Google-Schlaue", nennt Abercrombie die. Als er einmal einen Unfall aufgenommen habe, sei ein Passant vorbeigekommen und habe ihm erklärt, wie er den zu dokumentieren habe; er habe das im Fernsehen gesehen. "Wollen Sie mir jetzt erzählen, wie ich meine Arbeit zu tun habe?", habe Abercrombie gefragt. "Wir sind hier nicht im Fernsehen, wir sind die richtige Polizei. Ich habe das gelernt."
Diese Ermittlerteams machen alles richtig – aus Sicht des Staatsanwalts
Doch es gibt auch "Tatorte", die alles richtig machen. Stuttgart fällt Thomas Brand sofort ein, da hat ihm die Darstellung der Staatsanwältin Emilia Alvarez gefallen, die das Team mittlerweile verlassen hat. "Sie hat sich meist in einer ziemlich realistischen Weise eingebracht", sagt er. "Auch wenn es natürlich übertrieben war, dass sie ununterbrochen bei der Polizei rumgehangen ist." Denn in der Realität sind es nicht immer die gleichen Kolleginnen und Kollegen, mit denen Polizisten und Staatsanwältinnen zusammenarbeiten, erklärt er.
Auch München sei häufig authentisch – bis auf den Fall, der kürzlich in der Welt des Schachs auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen gespielt hat. "Dieser 'Tatort' war im Ansatz vollkommen daneben", sagt der ehemalige Staatsanwalt. Was ihn gestört hat? Der Münchner Gerichtsmediziner war zufällig dabei, als bei einem Schachturnier ein Mord passierte und trommelte dann die Münchner Kommissare zusammen. "Das geht so überhaupt nicht."
Wie es gegangen wäre: Ein Polizist aus dem Polizeipräsidium Rosenheim hätte in den Fall verwickelt sein können, sagt Brand. Dann hätte das Innenministerium einfach die Münchner Kollegen beauftragen können, die Ermittlungen zu übernehmen. Ein auswärtiges Team. "Dramaturgisch wäre das leicht umzusetzen gewesen."
Es ist ein Herzensthema, sowohl für den ehemaligen Staatsanwalt als auch für den Polizeioberkommissar – das ihnen so wichtig ist, dass beide sofort beim "Tatort" anfangen würden, wenn die ARD sie als Berater anheuern würde. "Aber ich weiss nicht", sagt Artie Abercrombie, "ob der 'Tatort' dann noch sehenswert ist."
Über die Personen
- Artie Abercrombie, 55, ist seit 38 Jahren bei der Polizei, seit 1991 als Streifenbeamter im Einzeldienst. Nach einigen Jahren in Hanau arbeitet er mittlerweile in seiner Geburtsstadt Schlüchtern.
- Thomas Brand, 71, arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Staatsanwalt, zuerst in Darmstadt, dann in Wiesbaden. Er war unter anderem im Wirtschaftsdezernat tätig, später für Organisierte Kriminalität, Rauschgift- und Jugenddelikte zuständig.
Über die Recherche
- Jeden Sonntag fragen wir unsere Leserinnen und Leser, wie ihnen "Tatort" oder "Polizeiruf" gefallen haben. Im Oktober vergangenen Jahres, als die ARD den Ludwigshafener "Tatort: Dein gutes Recht" zeigte, meldete sich Abercrombie bei uns. Als Polizeibeamter, schrieb er, seien "da einige Sachen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen". Thomas Brand meldete sich zu mehreren Fällen, unter anderem im Dezember 2024 zum "Tatort: Schweigen" mit Bundespolizist Falke: "Der erfahrene Kriminalist und Strafrechtler fragt sich natürlich, wie es sein kann, dass die Bundespolizei immer wieder in Kapitaldelikten ermittelt. Es ist wirklich nicht besonders schwierig, deren wahre Aufgabengebiete festzustellen."
- Wir fanden beide Perspektiven auf "Tatort" und "Polizeiruf" so interessant, dass wir uns zum Gespräch verabredet haben – zuerst mit Artie Abercrombie in Schlüchtern, dann mit Thomas Brand zum Video-Gespräch.