Zu Jahresbeginn wurde "Kein Tier. So Wild." bei der Berlinale vorgestellt, nun ist der Film im Kino zu sehen. Verena Altenberger spielt darin die Frau eines Unterwelt-Bosses.

Ein Interview

"Kein Tier. So wild." ist ein komplexer und intensiver Film – der aber auch "viel Action" verspricht, sagt Verena Altenberger, die darin die Rolle der Elisabet York spielt, der Frau eines Gangster-Bosses. Für die 37-Jährige ist das Werk "so eine Art Musikvideo mit schnellen Autos und extrem guten Outfits."

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Im Interview mit unserer Redaktion spricht Altenberger über ihre Herangehensweisen in der Vorbereitung auf eine Rolle, ihre Grenzerfahrung mit einer heroinabhängigen Person und das "Wunder der Empathie".

Frau Altenberger, wie haben Sie sich der Rolle der Elisabet York genähert? Sie wirkt unberechenbar und anziehend zugleich.

Verena Altenberger: Bei Elisabet habe ich etwas gemacht, was ich eigentlich nie mache. Ich habe mir ihr komplettes Leben auf mehr als 100 Seiten aufgeschrieben – von ihrer Geburt bis zu dem Moment, in dem wir sie im Film kennenlernen. Zu Drehbeginn kannte ich diese Frau und jeden ihrer Tage wirklich in- und auswendig.

Was ist so besonders an dieser Figur und dieser Geschichte, dass Sie diesen Aufwand betrieben haben?

Ich habe instinktiv gefühlt, dass es keinen Anker in dieser Film-Welt gibt. Die einzelnen Personen sind ganz tief in sich verwurzelt und kennen sich gut. Doch dann werden sie als Spielbälle in eine Welt geworfen, die ihnen unter den Händen zerrinnt. Die Umgebung löst sich buchstäblich auf. Ich konnte mich also nur an mir selber festhalten – und das passt letztlich auch zu dieser Elisabet York. Sie vertraut keinem Menschen ausser sich selbst.

Wie bereiten Sie sich normalerweise vor, wenn Sie mal nicht den gesamten Lebenslauf Ihrer Figur zu Papier bringen?

Es gibt nicht diese eine Strategie – zumindest nicht bei mir. Aber in den meisten Fällen suche ich mir reale Menschen. Bei "Die beste aller Welten" [kam 2017 in die Kinos; Anm. d. Red.] war das zum Beispiel der Fall. Wobei man dazusagen muss, dass es die Helga Wachter, die ich verkörpert habe, wirklich gegeben hat. Allerdings lebte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Um diese heroinabhängige Frau spielen zu können, habe ich mich mit Hilfe "echter" Menschen von Aussen nach Innen gearbeitet, angefangen von Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten über Suchthilfeorganisationen bis hin zu Ex-Junkies. Auch wenn ich mich nach ein paar Wochen gut mit dem Thema Sucht auskannte, verstand ich immer noch nicht den Alltag einer heroinabhängigen Mutter.

Was haben Sie unternommen, um diese Lücke zu schliessen?

Ich habe einfach nicht verstehen können, wie man drogenabhängig sein kann und es trotzdem schafft, den Sohn jeden Morgen um 7 Uhr zu wecken und ihm noch ein Pausenbrot für die Schule mitzugeben. In dem Moment war mir klar, dass ich mit einer süchtigen Person darüber sprechen musste. Zum Glück habe ich jemanden gefunden, der mir vertraut hat und dem ich vertraut habe. Die Person nahm mich mit in ihre WG, in der ich wochenlang von morgens bis abends beobachten durfte, wie sie ihren Alltag verbrachte.

"Manchmal wurde ich wütend und wollte sie am liebsten schütteln. Es gab auch viele Situationen, in denen mich ein Ekel überkam."

Verena Altenberger über die Erfahrung, in das Leben einer heroinabhängigen Person einzutauchen

Wie haben Sie diese Grenzerfahrung erlebt?

Es war bereichernd und herausfordernd zugleich. Manchmal wurde ich wütend und wollte sie am liebsten schütteln. Es gab auch viele Situationen, in denen mich ein Ekel überkam. Das musste ich aber aushalten, denn wenn ich eine Person spiele, dann muss ich sie auch ganz annehmen.

Wie oft mussten Sie als Elisabet York den Monolog "Halt's Maul, es geht abwärts" üben, damit er sitzt? Sind kurze, prägnante Sätze manchmal sogar herausfordernder als Szenen mit viel Text?

Nein, weil ich so nicht denke. Für mich ist die grösste Herausforderung, so sehr im Moment zu sein, wie ich nur irgendwie sein kann. Und so verstehe ich auch meinen Beruf. Ich bin in diesem Moment Elisabet York und sehe nur das, was sie sieht. Ich bin dann nicht die Verena, die darüber nachdenkt, wie man etwas sagen könnte.

Der Regisseur Burhan Qurbani ("Berlin Alexanderplatz") hat Shakespeares "Richard III." in das Berlin von heute gelegt. Ist das noch mutig oder schon waghalsig?

Weder noch. Es ist doch vielmehr eine lustvolle Aufgabe, diesen Text aus dem 16. Jahrhundert zu nehmen und zu schauen, welche Bilder und Assoziationen vor dem geistigen Auge erscheinen – und zwar aus dem heutigen Blickwinkel betrachtet.

Darum ist "Kein Tier. So Wild." für Altenberger kein Film über Clan-Kriminalität

Warum zeigt man einen Film, in dem arabische Clans in Berlin gewaltvoll miteinander umgehen?

Die Antwort auf diese Frage gibt Rashida York [gespielt von Kenda Hmeidan; Anm. d. Red.] in ihrem letzten Monolog, wenn sie sagt: "Ich bin nicht euer Gegenteil!" Für mich hat dieser Satz immer bedeutet, dass wir in diesem Film nicht an einer bestimmten Person festmachen, dass sie böse ist. Diese Person könnte genauso gut ich sein. Denn dieser Mensch ist nicht unser Gegenteil. Wir alle sind damit gemeint. Aus diesem Grund ist "Kein Tier. So Wild." für mich kein Film über Clan-Kriminalität, er geht uns alle etwas an.

Wie empfinden Sie das heutige Berlin?

Mir vermittelt Berlin immer noch eine grosse Freiheit. Ein kleines Beispiel: In Österreich würde ich mich nie trauen, auch nur ein paar Meter mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig zu fahren, selbst wenn dieser menschenleer ist. Es würde sich bestimmt in dem Moment ein Wiener materialisieren und schimpfen, dass das verboten ist. Die Regeln sind die Regeln. In Berlin wird dieses "Leben und leben lassen" schon deutlich grösser geschrieben.

Schauspielübung für eine bessere Gesellschaft

Rashida steht für die vielen Frauen, die in dieser – im Film beschriebenen – Welt der Männer nur Spielbälle sind. Das ist tief in der Historie verankert. Was können wir von ihr und ihrer Geschichte lernen?

Wenn wir über den Zustand der Gesellschaft reden, dann plädiere ich immer für das Wunder der Empathie. Und Empathie bedeutet im Übrigen nicht Mitleid. Ein Mensch, der empathisch ist, kann sich einfühlen. Er versucht, etwas zu verstehen. Häufig haben wir eine soziale Angst voreinander – in dem Sinne, dass wir nicht hinschauen oder uns mit etwas nicht auseinandersetzen wollen. Eine soziale Angst kann eine Wut und ein Abwerten entstehen lassen.

Als Schauspielerin bin ich eine professionelle Empathin. Meine berufliche Aufgabe besteht darin, mich ständig in andere Leute hineinzuversetzen – um sie so gut verstehen zu können, bis ich sie selber sein könnte. Meine Empfehlung für eine bessere Gesellschaft lautet daher: Macht eine Schauspielübung!

Nennen Sie bitte ein Beispiel: Bei welchem alltäglichen Problem kann eine Schauspielübung nützlich sein?

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen nervigen oder unangenehmen Nachbarn, der sich andauernd beschwert. In einer Schauspielübung würde man sich nun mit der Frage befassen, wie das Leben dieses Menschen bis zu diesem Punkt war. Wo kommt er her? Wie war seine Kindheit? Hat er einen Beruf? Man muss ihn nicht ansprechen. Es reicht aus, sich das nur vorzustellen. Der nächste Schritt wäre, sich zu fragen, wie sein Tag bisher ausgesehen haben könnte. Wie hat er geschlafen? Hatte er Frühstück? Wenn ich all das durchdenke, habe ich in mir schon eine Barriere zu diesem Menschen abgebaut.

Wie schmal ist der Grat zwischen "professioneller Empathie" und dem "Hyperempathie-Syndrom"? Nervt es Sie manchmal selbst, dass Sie ständig Mitgefühl mit anderen haben?

Ich habe manchmal eine zu hohe Erwartung an die Empathie der Anderen, weil ich selbst nun mal so fühle. Ich muss mir also schon immer wieder vor Augen halten, dass mein Gegenüber ein anderer Mensch ist.

Warum lohnt es sich, sich "Kein Tier. So Wild." im Kino anzuschauen, auch wenn man diesen komplexen und intensiven Film vielleicht nicht komplett versteht?

Also entweder ist man Cineast oder Cineastin, dann hat der Film alles, was man sich nur wünschen kann – und man kann ihn wahrscheinlich viermal sehen, und jedes Mal etwas komplett Neues entdecken. Oder man hat gar keinen Bock auf Arthouse-Kino. Dann bleibt immer noch eine geile, spannende Geschichte, viel Action, ein Rausch, vielleicht so eine Art Musikvideo mit schnellen Autos und extrem guten Outfits. Im Übrigen geht es selbst mir so, dass ich mir immer noch nicht sicher bin, ob ich den Film in Gänze verstanden habe (lacht).

Über die Gesprächspartnerin

  • Verena Altenberger ist eine österreichische Schauspielerin. Für ihre Rolle einer polnischen Altenpflegerin in der Sitcom "Magda macht das schon!" wurde sie 2017 für den deutschen Comedypreis nominiert. In demselben und dem darauffolgenden Jahr erhielt sie für "Die beste aller Welten" zahlreiche Preise. Von 2019 bis 2023 war Altenberger als Münchner Ermittlerin Elisabeth "Bessie" Eyckhoff in der Krimi-Reihe "Polizeiruf 110" zu sehen.