Tennislegende Boris Becker hat ein Buch über das dunkelste Kapitel seines Lebens geschrieben: die achtmonatige Haftstrafe, die er in zwei berüchtigten englischen Gefängnissen absitzen musste. Einblicke in die Seele eines Mannes, der seinen eigenen Absturz offenbar noch immer nicht fassen kann.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Julia Hackober dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Ganz ehrlich: Manchmal liest sich dieses Buch wie "Prison Break"-Fanfiction. "Es sind die Schreie, die dir am meisten zusetzen. Schreie, die klingen, als ob jemand stirbt", schreibt Boris Becker etwa über seine erste Nacht im berüchtigten Londoner Gefängnis Wandsworth, in dem auch schon Oscar Wilde oder Pete Doherty einsassen. Später erklärt die 57-jährige Tennislegende, wie man einen guten Eindruck im Knast macht ("Du willst zäh und stark wirken, als ob dir alles scheissegal wäre"), gibt Tipps zum Schmieden von Allianzen ("Glaubt mir, die Albaner will man auf seiner Seite haben") oder schwelgt in unerwarteten Freundschaften ("Das war unsere kleine Gang: Thomas, Ike, Shuggy und ich").

"Inside" heisst das neue Buch von Boris Becker, er erzählt darin von der achtmonatigen Haftstrafe, zu der er 2022 wegen verschiedener Delikte in einem Insolvenzverfahren verurteilt wurde; Becker hatte unter anderem Vermögenswerte in Millionenhöhe verschwiegen. Das Buch ist in Zusammenarbeit mit dem renommierten britischen Sportjournalisten Tom Fordyce entstanden, und man muss es sich als eine Mischung aus Bad-Ass-Memoiren und geläuterter Selbstoffenbarung vorstellen.

Boris Becker fühlt sich ungerecht behandelt

Denn natürlich dient die bereits dritte Autobiografie Beckers – der Mann hat eben viel erlebt – in erster Linie dem Versuch, das eigene Image zu korrigieren; der Öffentlichkeit die eigene Perspektive auf einen der am hämischsten beobachteten Promi-Abstürze der vergangenen Jahrzehnte aufzudrücken. Der einstige Wimbledon-Held fühlt sich von vielen Parteien ungerecht behandelt: von den deutschen Boulevard-Medien, die ihn und seine Familie seit 1985 nicht in Ruhe lassen; von angeblichen Freunden, die ihn in schweren Zeiten fallen liessen; von ehemaligen Geschäftspartnern, die einen in Businessfragen ziemlich naiven Becker nur ausnehmen wollten; und natürlich von der Londoner Richterin, die den gefallenen Tennisstar zur Haftstrafe verurteilte, auch mit der Urteilsbegründung, Becker habe keinerlei Reue über sein Verhalten gezeigt.

"Wie konnte ich Reue für etwas zeigen, von dem ich nicht wusste, dass es falsch war?", schreibt Becker zu Beginn seines Buchs und legt damit das Narrativ fest, an dem er offenbar vor sich selbst und vor seinem Lesepublikum gern festhalten möchte: Er wollte ja immer nur das Richtige tun, auf dem Centre Court, in der Liebe, im Geschäftsleben – und hatte keine Ahnung davon, wie brutal es in der Welt ausserhalb des Tenniszirkus zugehen würde.

Boris Becker: "Ich sehe mich nicht als Opfer"

Im Gefängnis erlebt Boris Becker den wohl denkbar härtesten Reality-Check, inklusive Einsamkeit, Hunger, Angst vor gewalttätigen Mitinsassen. Es dauert trotzdem noch ziemlich lange, bis er beginnt, darüber nachzudenken, wie genau sein Leben ihn in eine modrige Gefängniszelle führen konnte. Im Buch kommt er erst auf Seite 141 auf "ein paar Fehler" zu sprechen, die er in seinem Leben gemacht habe und für die er nun die Strafe zahlen müsse. "Ich sehe mich nicht als Opfer", behauptet Becker, er trage die Verantwortung für "all das"; gemeint sind die Haftstrafe, den Image-Verlust, zerbrochene Beziehungen.

Die Erkenntnis, nur selbst für die eigene Misere verantwortlich zu sein, nimmt man Becker nur so halb ab. Schliesslich stellt er seine grossen Lebensfehler als eine unglückliche Verkettung widriger Umstände dar, als bitteres Ergebnis von Gutgläubigkeit und Vertrauen in die falschen Leute. Da wären zum Beispiel die Frauen, die, über Jahrzehnte bestens vom Boulevard dokumentiert, in den meisten Fällen wohl nur den Glanz um ihn gesucht hätten. Vielleicht sei es nie um ihn selbst gegangen, den "Jungen aus Leimen", wie Becker etwas pathetisch formuliert: "Habe ich, Boris Becker, vielleicht einfach nie die richtigen Fragen gestellt?"

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"Inside" von Boris Becker: Braucht es dieses Buch?

Eine Frage, die sich Becker wohl wirklich hätte stellen müssen: Braucht es dieses Buch? Dafür, dass schon der Titel eine tiefgründige Innenansicht seines Seelenlebens verspricht, erfährt man nicht viel Neues. Schon Ende 2022, kurz nach dem Ende der Haftstrafe und der Abschiebung nach Deutschland, gab Becker ein umfangreiches TV-Interview, berichtete von Knast-Details und von der Demut, die ihn der Gefängnisaufenthalt gelehrt habe. Anschliessend wurde es im Boulevard ruhiger um ihn, er sortierte sich mit Freundin inzwischen dritter Ehefrau Lilian de Carvalho Monteiro in Italien neu, arbeitete wieder als Tennis-Kommentator. Eine Rolle, die sein Image besser als jede Läuterungs-Nabelschau aufpolierte: Wenn Boris Becker über Tennis spricht, kommt er einfühlsam, uneitel, witzig und natürlich hochprofessionell rüber. In die Herzen der Tennisfans katapultierte er sich so in Windeseile zurück. Skandale – welche Skandale?

Insofern ist Beckers jüngstes literarisches Werk auch ein Lehrstück dafür, dass die viel beschworene "Authentizität" nicht immer der gangbarste Weg sein muss, um aus verzwickten Lebenssituationen herauszufinden. Manchmal muss man sich schlicht auf das konzentrieren, was man am besten kann – und nicht jede Erklärung, warum, was, wie im Leben gekommen ist, mit einer Öffentlichkeit teilen, deren voyeuristische Lust am Skandal doch längst befriedigt ist.

Teaserbild: © picture alliance / Geisler-Fotopress/Matthias Wehnert