In ihrer Autobiografie "Die Zeitreisende" blickt Ute Lemper auf ihr Leben zurück. Am Dienstag wird die Musicaldarstellerin, Chansonsängerin und Schauspielerin 60 Jahre alt. Wir haben mit der in New York lebenden Münsteranerin über ihr Buch und ihre Beziehung zu ihrem Geburtsland Deutschland gesprochen.

Ein Interview

Die Zeitreisende

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Frau Lemper, der Prolog Ihrer Autobiografie "Die Zeitreisende" beginnt mit folgendem Zitat: "Erinnerung ist wie ein Filter und oft nur in ihr werden Momente zu Wunden und Wundern." Woran denken Sie zuerst, wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken: an die Wunden oder die Wunder?

Ute Lemper: Auf jeden Fall an die Wunder, denn alle Wunden heilen, irgendwann… Die Zeit ist ein interessanter Heilungsprozess. Im Übrigen sind auch die Wunden in der Erinnerung ein Wunder. Ich empfinde es als spannend zu beobachten, wie man aus Verletzungen hervorwächst.

Welche persönlichen Wunden kommen Ihnen konkret in den Sinn, die Sie rückblickend als Wunder bezeichnen würden?

Ich denke, es betrifft alles. Verlust, Trennung, Abschiede. Es ist gut, Negatives hinter sich zu lassen, und manchmal muss man sich auch von Menschen abkehren, auch wenn es zunächst weh tut. Doch dann gewinnt man wie ein Wunder eine lang ersehnte Freiheit. Sowohl die physischen Verletzungen als auch die mentalen Blessuren, zum Beispiel Streitigkeiten und Enttäuschungen, bringen schliesslich Klärung mit sich. Sogar kritische Urteile können inspirierend sein. Der Begriff "Misserfolg" existiert in meinem Wortschatz gar nicht, alles ist lebenswert, und der innere Kompass bestimmt die Perspektive des Erlebnisses.

Kommt der Begriff "Fehlentscheidung" in Ihrem Wortschatz vor? Sind es nicht die Fehler, die uns Menschen letztlich ausmachen?

Ich kann rückblickend auf mein Leben kaum etwas finden, was ich heute als Fehlentscheidung bezeichnen würde. Der Grund dafür ist, dass ich immer sehr intuitiv aus dem Bauch und aus einer gewissen Dringlichkeit heraus entschieden habe. Da Letztere immer Teil meines Lebens war, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich irgendwann einmal woanders hätte abbiegen können.

Ute Lemper: "Wollte mit meinem Buch meinen Lebensweg beschreiben"

In Ihrem Buch gehen Sie auf ein Telefongespräch aus dem Jahr 1987 ein, das Sie mit der grossen Marlene Dietrich geführt haben. Damals riet sie Ihnen, Ihr Privatleben stets geheim zu halten. Das wird spätestens dann schwierig, wenn man seine Biografie veröffentlicht. Warum haben Sie sich nun geöffnet?

Marlene hat ja keine Biografie geschrieben, sondern es ihrer Tochter überlassen. Und die hat deutlich mehr Informationen über ihre Mutter preisgegeben, als es Marlene getan hätte. Ich wollte mit meinem Buch meinen Lebensweg beschreiben. Einen Lebensweg, der sich aus vielen Parallelstrassen zusammensetzt. Ich beziehe mich gern auf die Zeitgeschichte, die sich im Verlauf meiner 60 Lebensjahre verändert hat, die umgebrochen ist, die mich erschüttert und verwundert hat. Ereignisse, die in den Bruchstellen passierten. Natürlich geht es auch um meinen Beruf, der mich ausmacht und der meine Identität ist. Ich definiere mich über meinen Beruf, doch noch tiefer über mein Leben als Mutter.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Autobiografie von denen vieler anderer Künstlerinnen und Künstler?

Ich persönlich mag es nicht, wenn in Autobiografien nur Arbeit und Errungenschaften in den Vordergrund gestellt werden. In meinem Buch geht es auch um Begegnungen mit aussergewöhnlichen Menschen, um berührende, kritische Lebensgeschichten, die der Leser nicht erwartet, die mich aber aufgerüttelt haben. Was macht mich aus? Mir war es sehr wichtig, den Leser in diese Sphäre von Menschsein einzulassen. Wenn ich diese Tür nicht geöffnet hätte, wäre das Buch nur halb so interessant geworden.

Dazu gehört vermutlich auch, Dinge aus dem Privatleben preiszugeben, oder?

Ich würde es nicht privat nennen. Gewisse Diskussionen und Streitigkeiten haben keinen Platz in diesem Buch. Es geht einzig und allein darum, wie ich mich als Mensch definiere. Wie ich mit Glück, mit Schmerz, mit Zweifeln und meiner Identität als berufstätige Frau mit den oft überwältigenden, doch meist belohnenden Herausforderungen umgegangen bin.

Ute Lemper wurde Mutter mit 48 Jahren

Sie sind relativ spät, mit 48 Jahren, nochmal Mutter geworden. Mischt sich die Gesellschaft nach wie vor zu sehr in die Frage ein, in welchem Alter eine Frau Mutter werden sollte?

Also, erstmals bin ich mit 30 Mutter geworden, aber Sie sprechen über mein letztes Kind. Und dieses gliederte sich in unsere Familie ein wie sanfte Milch. Wenn man sehr spät zum ersten Mal Mutter wird, dann verhält es sich natürlich etwas anders. Man darf nicht vergessen, dass dieses Kind weder das Netzwerk der Geschwister noch eine Mutter hat, die einem in 25 oder 30 Jahren noch zur Seite stehen kann. Dennoch muss das jeder Mensch für sich selbst entscheiden – in Abstimmung mit den Behörden und Psychologen, die entsprechende Background-Checks machen.

Wurden Sie damals auch mit negativen Reaktionen konfrontiert?

Seltsamerweise nur in Deutschland. In New York ist das alltäglich. Ich habe mich zwar gewundert, dass ein Urteil aufkam, interessiert hat es mich jedoch nicht. Ich war der glücklichste Mensch auf dem Erdball, als ich mein viertes Kind bekam und das Leben nochmal bereichern durfte. Wir lieben unseren Kleinsten so sehr. Für mich war es ein Geschenk des Himmels, und ich war dankbar dafür, dass man solche Träume mithilfe der Medizin verwirklichen kann.

Wie strikt trennen Sie Berufliches von Privatem? Oder geht das gar nicht, weil Sie auf der Bühne keine Rolle spielen, sondern schlicht und einfach Ute Lemper sind?

Wenn ich zum Beispiel ein selbstgeschriebenes Lied singe, dann ist das keine Rolle, die ich spiele. Das bin ich. Ich glaube, dass diese Diskrepanz zwischen der Projektion eines anderen Charakters in der Musik nicht existent ist. Ob Bruce Springsteen, Maria Callas, Bob Dylan oder ein zeitgenössischer Sänger wie Udo Lindenberg: Wir sehen immer den Menschen – und wir bekommen in diesem Moment alles von ihm zu sehen. In diesem Sinne bin ich eher Musikerin, die ihre Tür immer offen hält. Das grosse Theatralische einer Rolle mag ich gar nicht so gerne. Schliesslich schwingt da immer eine gewisse Entfremdung mit. Auch wenn ich Marlene Dietrich spiele und in ihre Haut hineinkrieche, erlebe ich irgendwie eine andere Körperlichkeit meines Lebens.

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Ute Lemper: "Ich habe nur bedingt Angst vor dem Tod"

Am 4. Juli feiern Sie Ihren 60. Geburtstag. Wenn ich in Ihrem Buch Zeilen wie "Noch spaziere ich nur auf dem letzten Drittel meines Weges und hoffentlich bin ich weiter entfernt als befürchtet vom Endspurt" lese, stelle ich mir die Frage: Haben Sie Angst vor dem Tod?

In erster Linie empfinde ich eine riesige Dankbarkeit gegenüber diesem enormen Berg von Leben, den ich bereits erklommen habe. Ich bin von alldem, was ich geschaffen und gepflanzt habe, unglaublich erfüllt. Dabei denke ich natürlich vor allem an meine grosse Familie hier in New York, in einer völlig neuen Welt, die ich nie so geplant hatte und mir doch ersehnte. Und das Allerwichtigste ist, dass alle gesund sind. Ich bin auch sehr dankbar dafür, dass ich mir in den vergangenen 20 Jahren als Künstlerin sehr treu sein durfte. Also: Angst vor dem Tod habe ich nur bedingt, denn ich hoffe, er steht nicht dringend vor meiner Tür. Ich bin auf jeden Fall noch nicht bereit, ich geniesse mein Leben sehr und werde vor allen Dingen noch gebraucht.

Dieses Gefühl schwingt durchaus mit, wenn man "Die Zeitreisende" liest. Ich zitiere eine andere Stelle: "Die Zukunft liegt vor mir wie ein offenes Buch, sein Ende nähert sich aber schneller als gewünscht."

Am Ende des Tages ist das Leben eine melancholische Angelegenheit. Dieses ewige Hin und Her der Gefühle. Dieses Yin und Yang. Das Glück, das das Unglück bedingt. Die Vollkommenheit, die die Unvollkommenheit mit sich führt. Letztendlich werden wir immer wieder mit zerplatzten Träumen und unerfüllten Erwartungen konfrontiert. Insbesondere für junge Menschen ist es mitunter schwierig, mit diesen Enttäuschungen umzugehen. Über Reflexionen wie diese habe ich geschrieben, aber gleichzeitig meine bedingungslose Begeisterungskraft und Leidenschaft für das Leben mit seinen vielen Rufen und Berufungen geschildert.

Auch im höheren Alter ist man vor Enttäuschungen nicht gänzlich gefeit. Gilt das auch für jemanden wie Sie, der von aussen betrachtet alles erreicht hat, was es zu erreichen gibt?

Ich bin sehr glücklich und kann mit Enttäuschungen wirklich gut umgehen. Ich bin daran gewöhnt. Aber mein Mann sagt auch immer zu mir: "Was erzählst du denn da? Du bist doch eine Legende und hast ein unglaubliches Lebenswerk hinter dir." Dennoch empfinde ich wie jeder andere sowohl den Schritt nach vorne als auch immer wieder den Schritt zurück.

Ute Lemper: "Als Star würde ich mich selbst niemals bezeichnen"

Sehen Sie sich selbst als Legende oder Weltstar?

Das sind einfach nur Wörter, in die ich nicht hineinpassen muss und die ich mir auch nicht anhefte. Mir bedeuten diese Begriffe gar nichts – ebenso wenig wie irgendwelche Vergleiche. Wenn ich es jedoch analysieren müsste, dann mag es vielleicht zutreffen. Ich trete ja wirklich in vielen Ländern auf. Okay, insofern bin ich eine Weltreisende. Als Star würde ich mich selbst aber niemals bezeichnen.

Sie leben in New York. Wie haben Sie die Stadt damals lieben gelernt?

Meine ersten Konzerte in New York habe ich bereits Ende der 80er-Jahre gespielt. Im Vergleich zu den 90ern war das New York der 80er viel unsicherer und ausgeflippter, aber schon damals sehr aufregend. Die Extreme zwischen Reich und Arm waren eklatant sichtbar. Auf der anderen Seite war es eine Immigrantenstadt, in der auch viele Menschen lebten, die Deutschland während der Nazi-Zeit verlassen hatten. Das empfand ich als sehr bereichernd. Ich war sehr neugierig auf all die Immigrantenschicksale. All die Neuanfänge.

Sie sind geblieben und haben die Veränderungen dieser Metropole miterlebt. Welche Ereignisse waren besonders einschneidend?

In den 90ern machte der damalige Bürgermeister Rudy Giuliani das Stadtbild touristenreif – auf Kosten der Obdachlosen, die er leider mit wenig Empathie hinausmanövriert hatte. Bis heute verändert sich die Architektur ständig, was ich manchmal schade finde, wenn etwa grosse Shopping Malls wunderbare, alte Markthallen verdrängen. Und der Times Square ist inzwischen eine einzige LED-Reklame. Die Science-Fiction-Version wurde also zur Realität. Später wurde New York natürlich zweimal von Schockmomenten heimgesucht: von 9/11 und der Pandemie. In beiden Fällen stand die Stadt vollkommen still. So langsam spüre ich aber, dass der Spirit der Vor-Pandemie-Zeit wieder zurückkehrt.

Leben als internationale Künstlerin

Haben Sie Deutschland damals den Rücken gekehrt, weil Sie sich verstossen gefühlt haben? Diese zeitweise schwierige Beziehung zu Ihrem Geburtsland geht zumindest aus Ihrer Autobiografie hervor …

Nein, das stimmt so nicht. Ich habe mich nie verstossen gefühlt und habe auch keine schwierige Beziehung zu meinem Land. Das ist eine Gerüchteküche. Ich habe immer dort gelebt, wo mir die schönsten Rollen angeboten wurden: Berlin, London, Paris, New York. Ich bin dorthin gezogen, wo die interessanteste Arbeit rief.

Es ist aber ein interessantes und kompliziertes Thema, als internationale Künstlerin deutsch zu sein. Ich habe beschrieben, was es bedeutet, diese deutsche Identität in der Welt zu vertreten – vor allem damals in den 80ern. Meine Nationalität wurde zu einer grossen Mission und Verantwortung. Ich habe mit Blick auf die deutsche Geschichte zu dieser Zeit viel Trauer und Scham empfunden. Heute bedeutet es etwas ganz anderes. Wenn ich heute sage, dass ich deutsch bin, dann sage ich das mit grossem Stolz.

Ich bezog mich erneut auf Ihr Telefonat mit Marlene Dietrich, in dem sie Ihnen bezogen auf Deutschland sagte: "Die wollen mich doch nicht!" Im direkten Kontext dazu schreiben Sie: "Gab es hier Ähnlichkeiten zu meiner Beziehung mit dem Heimatland? Die wollten mich doch auch nicht, zumindest damals vor 30 Jahren. Es war schwierig, ein Land zu lieben, das mich verstiess."

In Marlenes Worten spiegelte sich ein Abgrund, eine tiefe Traurigkeit, ihre Heimat und Kultur verloren zu haben und nicht zurückkehren zu dürfen bis zu ihrem Tode. Man hatte sich bis zu ihrem Tod 1992 nicht offiziell entschuldigt, sie als Vaterlandsverräterin beschimpft zu haben. Diese Trauer und diese Schmach nahm sie mit ins Grab in Berlin – und schon zehn Jahre später wurde sie plötzlich zum Statussymbol der Stadt. Ich habe ihre Bitterkeit gefühlt und fühle sie heute noch. Diese Momente des Telefonats sind mir besonders unter die Haut gegangen. Ich habe daraus mein Bühnenstück entwickelt. Und so liest sich auch mein Buch, vieles riss an meiner inneren Schutzhülle und diese Lebensmomente sind es wert zu beschreiben.

Heute kommen auch noch die sozialen Medien dazu. Wie stehen Sie zu Facebook, Instagram und Co.?

Ich versuche, hier auf Trab zu bleiben, aber möchte nicht Stunden am Telefon verbringen und in diesem Sog landen. Die sozialen Medien sind sinnvoll, um ab und zu wichtige Dinge zu posten und auf etwas aufmerksam zu machen. Diese Aufgabe überlasse ich häufig einer jungen Dame, die meine Inhalte hochlädt. Auf nette Kommentare antworte ich aber auch gern selbst.

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