Gestikulieren hat keinen allzu guten Ruf. Angeblich wirkt es unprofessionell und verrät zu viel über unsere Gefühle. Dabei sind Gesten überaus nützlich, sagt die Gestenforscherin Jana Bressem. Man verlagert das Denken in die Hände.
Wenn Kinder anfangen zu rechnen, nutzen sie ihre Finger. "Drei plus fünf" wird dann zu drei Fingern links und fünf Fingern rechts. Was viele Erwachsene argwöhnisch beäugen, ist allerdings eine vernünftige Strategie. Denn das Gehirn muss sich die Zahlen nicht länger merken, sondern kann sich auf die Addition konzentrieren. "Die Gesten reduzieren die kognitive Belastung", erklärt die Gestenforscherin Jana Bressem, die an der Technischen Universität Chemnitz lehrt. "Man verlagert das Denken in die Hände."
Spätestens, wenn Erwachsene bei einer Knobelaufgabe herausfinden sollen, wie ein Objekt gedreht werden muss, um der Vorlage zu entsprechen, nutzen auch sie ihre Hände. Die Gestenforschung zeigt: Menschen gestikulieren immer dann besonders viel, wenn sie vor einem Problem stehen und sich für einen Lösungsweg entscheiden müssen. Die Gesten – so eine These – treiben die kognitiven Prozesse voran, sie helfen uns also beim Denken.
Zu Unrecht verpönt: Gesten sind etwas sehr Nützliches
Trotzdem haben Gesten nicht den besten Ruf. Angeblich geben sie zu viel von unseren Gefühlen preis. In Körpersprache-Seminaren werde immer noch geraten, Gesten sparsam einzusetzen, kritisiert Bressem, die gemeinsam mit der Gestenforscherin Silva Ladewig von der Universität Göttingen den Wissenschaftspodcast "Talking Bodies" produziert. Dabei seien Gesten etwas sehr Nützliches, so die Sprachwissenschaftlerin: "Wir setzen sie immer dann ein, um Dinge zu veranschaulichen, die man mit Sprache schlecht ausdrücken kann."
Die Pionierin der Gestenforschung Susan Goldin-Meadow von der Universität Chicago geht sogar noch weiter: "Gesten bieten eine zusätzliche Art des Denkens – visueller als Sprache, aktiver als Bilder."
Überall auf der Welt nutzen Menschen Gesten beim Sprechen. Wir drehen beispielsweise automatisch die Hand, wenn wir über einen Schlüssel sprechen, oder wischen Bedenken mit einem Schnippen der Hand beiseite. Die Gestenforscherin Cornelia Müller von der Europauniversität Viadrina in Frankfurt/Oder analysierte in einer Studie 20 deutsche und spanische Alltagsgespräche. Sie stellte zum einen fest: Deutsche und Spanier gestikulierten entgegen aller Stereotype gleich viel. Zum anderen zeigte die Untersuchung: Bei 40 Prozent aller Verben, die in Zusammenhang mit Bewegung stehen, setzten die Sprechenden gleichzeitig ihre Hände ein.
Gesten geben Einblick in unsere Vorstellungswelt
Formen, die Positionierung von Gegenständen im Raum, Grössenverhältnisse, Mechaniken, Richtungsangaben: Bei all diesen Themen sind Gesten der Lautsprache überlegen. Und während wir beim Sprechen nur ein Wort an das andere reihen können, ermöglichen die Hände uns, zwei unterschiedliche Informationen zu vermitteln.
Dabei geben Gesten Einblick in unsere Vorstellungswelt. Deshalb bezeichnen Forschende Gesten auch als Fenster zum Geist. Wenn wir Argument A mit einem Handwischen nach links und Argument B mit einem Handzeichen nach rechts betonen, ist für das Gegenüber klar, dass wir über zwei sehr konträre Positionen sprechen.
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Der Drang zum Gestikulieren scheint tief in uns verankert zu sein. Auch Menschen, die blind geboren wurden, gestikulieren. Wir nutzen Gesten beim Telefonieren oder im Dunkeln, wenn uns niemand sehen kann. Das spricht dafür, dass wir nicht nur gestikulieren, um unsere Gedanken anderen verständlicher zu machen, sondern auch, um unser eigenes Denken zu unterstützen.
Wie bewusst eingesetzte Gesten beim Lernen helfen
Lehrerinnen und Lehrer profitieren, wenn sie auf die Gesten ihrer Schülerinnen und Schüler achten. Susan Goldin-Meadow fand heraus, dass Gesten implizites Wissen zeigen. Gemeint ist Wissen, das Kinder zwar schon haben, aber noch nicht sprachlich ausdrücken können. In der Studie arbeitete sie mit dem sogenannten Umschütt-Test: Dabei wird die gleiche Menge Wasser in unterschiedlich geformte Gefässe gefüllt. Die Kinder müssen anschliessend sagen, ob überall gleich viel Wasser enthalten ist.
Einige Kinder verneinten und wiesen auf die unterschiedlichen Wasserstände hin, zeigten aber gleichzeitig mit den Händen die Breite der Gefässe an. Ein Hinweis für die Forschenden, dass die Kinder das Grundprinzip verstanden hatten. Spätere Untersuchungen ergaben: Werden gestisch und sprachlich gegensätzliche Inhalte ausgedrückt, sind Kinder besonders offen für neue Informationen.
Die Verkörperung unterstützt den Lernprozess.
Bewusst eingesetzte Gesten helfen beim Lernen. Wenn Lehrende mithilfe ihrer Hände einen Satz in mehrere Einheiten zerteilen, verstehen Schüler leichter, dass es verschiedene Satzelemente gibt. Zeigen Lehrende im Matheunterricht auf die Zahlen, die sie erklären, behalten Kinder mehr vom Lernstoff, als wenn dieser ohne Gesten unterrichtet wurde.
Was beim Vokabellernen helfen kann
Selbst bei abstrakten Gebilden wie Vokabeln erleichtern Gesten das Lernen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig liessen Probandinnen und Probanden Wörter der Kunstsprache Wimmi lernen. Die Teilnehmenden hatten eine Woche Zeit, sich abstrakte Begriffe wie atesi (Gedanke) oder abiru (Schlüssel) einzuprägen.
Dafür sollten sie unterschiedliche Methoden verwenden: Im ersten Experiment hörten sie ein Wort und betrachteten anschliessend ein passendes Bild oder eine Geste. Im zweiten Experiment malten sie das Wort in der Luft nach oder drückten es mit einer selbstgewählten Geste aus. Die Forschenden prüften anschliessend und nach mehreren Monaten den Lernerfolg. Am besten konnten sich die Lernenden einen Begriff merken, wenn sie ihn selbst mit einer Geste ausdrückten.
"Die Verkörperung unterstützt den Lernprozess", erklärt Jana Bressem und rät, sich dieses Wissen beim Vokabellernen zunutze zu machen: Nicht nur bei Präpositionen wie "hinter" oder "zwischen" bieten sich Gesten an, sondern auch bei abstrakten Begriffen wie "Freude" oder "Trauer". Das Prinzip funktioniere übrigens auch beim Vorbereiten einer Präsentation, sagt die Gestenforscherin: Die Einleitung kreist das Thema ein? Dann kann man beim Üben bewusst eine Hand kreisen lassen. Später im Vortrag helfe die Bewegung, sich an die Inhalte zu erinnern.
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Verwendete Quellen
- talkingbodies.de: Der Podcast für alle, die gern hinter die Kulissen der Kommunikation schauen
- newscientist.com: Gesture is a uniquely powerful tool. Here's how to make the most of it
- dafdigital.de: Cornelia Müller: Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte – Theorie – Sprachvergleich
- cell.com: Visual and Motor Cortices Differentially Support the Translation of Foreign Language Words
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