Sind komplexe Gesellschaften nur dank Alkohol entstanden? Wissenschaftler haben die "Drunk Hypothesis" überprüft – und sind zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen.

Dass Alkohol gesellig macht, ist kein Geheimnis. Aber trug er auch dazu bei, dass aus frühen Stammeskulturen komplexe Gesellschaften wurden? Die "Drunk Hypothesis" existiert schon länger. Nun haben Wissenschaftler Datensätze aus mehreren Studien erneut untersucht – mit bemerkenswerten Ergebnissen.

Über den Einfluss von Alkohol auf das Sozialverhalten von Menschen und auch von Primaten gibt es bereits zahlreiche, teils umstrittene Studien. Denn Alkoholkonsum ist biologisch gesehen ein Paradox: Er schädigt den Körper, erhöht die Unfallgefahr und kann abhängig machen. Trunkenheit stört die Wahrnehmung und steigert Aggressivität. Eigentlich hätte die Evolution einen solchen Rausch über Jahrtausende hinweg verhindern sollen. Trotzdem finden sich alkoholische Getränke in nahezu allen Kulturen und zu allen Zeiten.

Für den Sinologen und Philosophen Edward Slingerland war das ein Hinweis auf einen tieferen gesellschaftlichen Nutzen. In seinem 2021 erschienenen Buch Drunk. How We Sipped, Danced, and Stumbled Our Way to Civilization beschreibt er Alkohol als eine Art Kulturtechnologie und soziales Schmiermittel. Seine These: Alkohol baut Hemmungen und Ängste ab, fördert Vertrauen und erleichtert Kooperation. Leichte Trunkenheit steigere zudem Kreativität, Humor und nonverbale Kommunikation. All das seien Faktoren, die zur Entstehung komplexer Gesellschaften beigetragen hätten.

Neue Bindungen durch den gemeinsamen Rausch

Die "Drunk Hypothesis" besagt ausserdem, dass durch gemeinsames Trinken starre Familienstrukturen aufgebrochen wurden. Feste und kollektiver Rausch ermöglichten Kooperation über Verwandtschaftsgrenzen hinaus.

Darüber hinaus spielte Alkohol eine Rolle bei der Entstehung von Märkten. Archäologische Funde zeigen, dass in Mesopotamien Bier als Zahlungs- und Tauschmittel genutzt wurde. Slingerland sieht ähnliche Effekte beim Aufkommen von Religionen und Ritualen, die wiederum komplexe Gesellschaftsstrukturen förderten.

Mythen, Lieder und Traditionen seien oft in feuchtfröhlichen Feiern entstanden – Bier und Wein dienten dabei, ähnlich wie heute im Bierzelt, als Katalysator. Allerdings, betont Slingerland, handelte es sich vermutlich um moderaten Konsum. Frühformen von Bier und Wein hatten deutlich weniger Alkoholgehalt und führten eher zu leichter Beschwingtheit als zu Kontrollverlust.

Eine kleine Geschichte des Alkohols

Archäologische Funde belegen, dass in fast allen bekannten Kulturen Alkohol konsumiert wurde: Das früheste Bier ist um 3.400 v. Chr. in Mesopotamien nachgewiesen, der erste Weinbau in Georgien um 6.000 v. Chr., Reiswein in China sogar schon um 7.000 v. Chr.

Das Wort Alkohol stammt aus dem Arabischen "al-kuhl", das so viel wie Essenz oder reinstes Extrakt bedeutet. Im Mittelalter gelangte das Wort dann nach Europa und wurde zu "alcohol". Der erste hochprozentige Trinkalkohol wurde wohl im 9. Jahrhundert von Arabern destilliert. In Europa brannten Mönche ab dem 12. Jahrhundert mit dem "aqua vitae" (Wasser des Lebens) den ersten Schnaps auf europäischem Boden.

Kritik an der Hypothese

Kritiker bemängeln an der "Drunk Hypothesis", dass aus dem blossen Nachweis von Alkoholkonsum keine Kausalität abgeleitet werden könne. Komplexe Gesellschaften könnten also parallel zu, nicht aber wegen Bier, Wein und Festen entstanden sein.

Ausserdem gab es andere psychoaktive Substanzen wie Peyote oder Ayahuasca in Südamerika, die ähnliche soziale Funktionen erfüllten. Und: Alkohol kann ebenso gut Aggression und Konflikte befeuern – was der sozialen Kooperation entgegensteht.

Die Überprüfung der Theorie

Im Juli 2025 veröffentlichten Wissenschaftler im Fachmagazin Nature eine Studie, die die "Drunk Hypothesis" systematisch überprüfte. Dafür analysierten sie Datensätze von 186 nicht-industriellen Gesellschaften im Hinblick auf ihren Alkoholkonsum.

Das Ergebnis: Es gibt tatsächlich eine Verbindung zwischen dem Vorhandensein alkoholischer Getränke und der politischen Komplexität einer Gesellschaft – wenn auch nur moderat. Je mehr alkoholische Getränke eine Gesellschaft produzierte, desto zahlreicher waren ihre administrativen und politischen Ebenen.

Allerdings war Alkohol nach den Ergebnissen nicht der entscheidende Faktor. Landwirtschaft und Religion spielten in der Entwicklung komplexer Gesellschaften eine deutlich grössere Rolle. Zusammengefasst: Alkohol erleichterte den Weg zur Hochkultur, war aber nicht deren Hauptursache.

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Die Forscher betonen zudem: Diese Befunde gelten nur für schwach alkoholische Getränke in vormodernen Gesellschaften. Für heutige Gesellschaften wirkt übermässiger Alkoholkonsum eher destruktiv.

Verwendete Quellen: