Wenn man unter enormen Selbstzweifeln leidet, spricht man umgangssprachlich von einem Minderwertigkeitskomplex. Für Betroffene kann das schwerwiegende Folgen im Alltag haben. Doch so muss es nicht bleiben. Psychotherapeuten erklären, welche Strategien helfen können.

Mehr zum Thema Gesellschaft & Psychologie

Unterlegen, inkompetent, unattraktiv. Die anderen: alle besser. Es gibt Momente im Leben, in denen man sich genauso fühlt. Und das ist auch nicht unnormal.

Doch bei manchen Menschen ziehen sich Selbstzweifel permanent wie ein roter Faden durch all ihr Denken und Handeln. Sie glauben, dass sie "zu nichts nutze", "wertlos" oder "ungeliebt" seien. Womöglich haben sie dann einen Minderwertigkeitskomplex.

Minderwertigkeitskomplex: Wenn man sich für ungenügend hält

Eine Junge Frau hinter Blumen im Park
Das Gefühl, weniger "wert" zu sein als andere, kann belasten und zu Vermeidungsverhalten führen. Hier ist es wichtig zu erkennen, dass es ein subjektives Gefühl ist - und eines, an dem man arbeiten kann. (Symbolbild) © dpa/Yuliia Blazhuk/Westend61

"Minderwertigkeitskomplex ist kein wissenschaftlicher, sondern ein alltagsnaher Begriff", sagt Gregor Müller, Psychologischer Psychotherapeut in Bochum. Im Kern gehe es um "ein grundlegendes Gefühl der Selbstunsicherheit". Man traut sich nichts zu, sieht sich selbst andauernd als Versagerin oder Versager und meint, immer alles falsch zu machen.

Auch die Freiburger Psychologische Psychotherapeutin Eva Maria Klein spricht eher von "Selbstwertproblematik" als von "Minderwertigkeitskomplex". Bei Betroffenen gebe es eine Diskrepanz zwischen dem "idealen Selbst und der Realität". Diese Diskrepanz entstehe, wenn die Person hohe Erwartungen oder Ansprüche an sich selbst habe. Ursache hierfür seien oft etwa hohe Leistungserwartungen in der Kindheit seitens der Eltern. Passt die Wirklichkeit nun nicht mit den Erwartungen und Ansprüche zusammen, leiden Betroffene.

Eine Rolle spiele auch, dass Menschen mit hohen Erwartungen und Ansprüchen gegenüber dem eigenen Ich sich andauernd mit anderen Menschen vergleichen. Dieses Vergleichen an sich sei nicht ungewöhnlich. "Aber wenn man es ständig macht und sich dabei immer unterlegen fühlt, kann das sehr belastend sein", so Klein.

"Möglich sind durch das geringe Selbstwertgefühl auch Ängste, sich bestimmten Situationen zu stellen."

Psychologische Psychotherapeutin Eva Maria Klein

Mit dem "zu wenig"-Gefühl gehen oft weitere negative Empfindungen einher. "Möglich sind durch das geringe Selbstwertgefühl auch Ängste, sich bestimmten Situationen zu stellen", sagt Klein. Mitunter auch ein Gefühl der Scham, was für Betroffene zusätzlich belastend sein kann. Auch könne sich daraus beispielsweise eine Depression entwickeln.

Habe ich wirklich einen Minderwertigkeitskomplex?

Um herauszufinden, ob man einen Minderwertigkeitskomplex hat, bietet es sich an, einfach mal den Fokus auf den eigenen Selbstwert zu richten. Also: Welche Pluspunkte habe ich optisch, welche Kenntnisse und Fähigkeiten besitze ich, was sind meine Stärken?

Wer bei dieser Selbstanalyse wenig Gutes findet, sich nur auf Schwächen und Fehler fokussiert, könnte ein Problem mit der Selbstwahrnehmung haben: "Je negativer man sich selbst sieht und je mehr man davon ausgeht, dass auch andere einen negativ bewerten, desto wahrscheinlicher ist ein Minderwertigkeitskomplex", sagt Gregor Müller.

Die Ohnmacht-Position verlassen

Minderwertigkeitsgefühle und die negativen Gedanken, die denen zugrunde liegen, lassen sich oft durchbrechen. "In leichteren Fällen kann schon ein positiver Zuspruch von Freunden oder eine positive Rückmeldung im Job zielführend sein", so Müller. Unabhängig davon kann und sollte man auch selbst etwas dafür tun, die negativen Selbstwertgefühle umzukehren.

"Zwar kann dieser Prozess eine Weile dauern, aber er kann gelingen", sagt Klein. Es gibt verschiedene Strategien, das Selbstwertgefühl zu steigern, dazu gehören zum Beispiel:

  • Sich selbst akzeptieren: "Ein erster Schritt kann sein, sich selbst so anzunehmen, wie man ist", sagt Diplom-Psychologe Müller. Dies sei zunächst einmal keine Bewertung, ob man sich selbst positiv oder negativ empfindet.
  • Im nächsten Schritt lotet man dann für sich aus, was einem an der eigenen Person missfällt. "Beispielsweise, man findet sich ungepflegt oder zu dick", so Müller.
  • Dann fasst man einen Plan zur Problemlösung: Etwa, sich öfter die Haare zu waschen und auf saubere Kleidung zu achten oder sich zum Ziel setzen, in einem bestimmten Zeitraum ein paar Kilos abzunehmen.

"Schon allein das Bewusstseinschärfen für ein Problem und den Plan zur Problemlösung können der Anfang sein, das Selbstwertgefühl zu steigern", so Müller. Denn so verlasse man die Ohnmacht-Position heraus und handele.

Was mag ich an mir und was mögen andere an mir?

Noch mal genauer hinschauen und eigene Stärken vor Augen führen - die hat jede und jeder. "Hilfreich kann sein, sich die eigenen Stärken und Erfolge zu vergegenwärtigen", sagt Klein. Wer in Ruhe überlegt, dem oder der fallen bestimmt einige Dinge ein, die auch andere positiv an einem empfinden.

Diese Punkte kann man sich notieren und diese Liste regelmässig ergänzen. Und in Phasen, in denen man von Selbstzweifel geplagt ist, sich in Ruhe zu Gemüte führen, um dadurch das Selbstwertgefühl zu steigern.

Kein Mensch ist minderwertig oder wertlos

Den eigenen Wert erkennen: Minderwertig? Wertlos? Das sind Menschen niemals – das sollte man sich klarmachen. Jeder und jede hat Stärken wie Schwächen. Natürlich kann man sich mit anderen vergleichen und feststellen, dass man zum Beispiel etwas Bestimmtes nicht so gut kann. "Das heisst aber nicht, dass man deswegen weniger wert ist", so Müller. Und womöglich kann man womöglich etwas, das andere nicht können.

In manchen Fällen kann es schwer sein, in Eigenregie eine Selbstwertproblematik zu überwinden, gerade wenn sie mit anderen Symptomen verbunden sind und den Alltag belasten. "Eine Psychotherapie kann dann oft zielführend sein", so Eva Maria Klein.

Lesen Sie auch

Wie geht man mit jemandem um, der starke Selbstwertprobleme hat?

Wenn Menschen im Familien-, Freundes oder Kollegenkreis mit einem Minderwertigkeitskomplex zu kämpfen haben, ist das keine einfache Situation. Generell gilt: "Je näher mir die jeweilige Person ist, desto eher kann ich sie behutsam auf meine Eindrücke von ihr ansprechen", sagt Gregor Müller.

Das Gespräch sollte zugewandt und auf Augenhöhe gestaltet werden. Die aussenstehende Person sollte nicht das Minderwertigkeitsgefühl des oder der anderen "wegreden". Besser sei es dagegen, den Blick auf positive Dinge zu richten und etwa zu loben, "ich finde, Du machst das top!"

Wichtig, damit die Wertschätzung auch wirkt: begründen, warum der oder die andere etwas gut macht. Denn gerade überzeugende Argumente könnten dazu beitragen, das Selbstwertgefühl des Gegenübers zu steigern. (dpa/bearbeitet von mak)

Hilfsangebote

  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
Teaserbild: © Getty Images/martin-dm