Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem Format "... und jetzt?" beantworten Menschen mit ganz unterschiedlichen Expertisen die intimen Fragen unserer Leserinnen und Leser.

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Es gibt mehr als schwarz und weiss, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die uns unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.

Hier finden Sie auch frühere Ausgaben von "... und jetzt?"

Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format intime Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen mit verschiedenen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten, die sich mal ergänzen, mal widersprechen.

Eine Frage – verschiedene Antworten

In unserer aktuellen Ausgabe hat sich eine Person Antworten auf die folgende Frage gewünscht:

"Nach der Verliebtheitsphase finde ich auch andere Frauen attraktiv, die ich auf der Strasse sehe. Der Reiz ist da, etwas mit anderen Frauen zu haben. Wie kann ich damit umgehen?"

Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf die Frage gegeben haben:

Simon B. Eickhoff: Bewusstes und Unbewusstes trennen

"Ich würde sagen, dass man diese beiden Aspekte trennen muss. Jemanden attraktiv zu finden, das ist etwas, das in unserem Gehirn weitestgehend automatisiert abläuft. Da haben wir gar nicht so viel Steuerungskapazität, da es im Gehirn eigentlich immer zu einem (kleinen) Belohnungsreiz kommt, wenn wir jemand Attraktives sehen.

Simon Eickhoff
Simon Eickhoff © FZJ/Sascha Kreklau

Das sieht beim nächsten Schritt ganz anders aus. Könnte ich mir vorstellen, etwas mit dieser Person 'zu haben'? Da macht man sich bewusst Gedanken darüber, ob sich ein tatsächliches Handeln, mit einer negativen Konsequenz auf die existierende Beziehung, lohnen würde.

Ausserdem spielen Erwartungen beim Belohnungssystem eine wichtige Rolle, so dass schon die Vorstellung eine gewisse 'Vorfreude' mit sich bringen kann, die der Fragesteller möglicherweise sucht. Wie lässt sich dies mit der Aussage verbinden, dass er in der Beziehung grundsätzlich sehr zufrieden ist? In einer stabilen Beziehung spielen das Zwischenmenschliche, Vertrauen und Vertrautheit eine zentrale Rolle. Nun ist aber Vertrautheit in einer gewissen Weise der 'Gegenspieler' des Dopamins und seinem kurzfristigen Glückserleben. Dieses könnte hier gesucht werden."

Zum Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Simon Eickhoff leitet das Institut für Systemische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Düsseldorf und das Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.
  • Seine Forschungsschwerpunkte sind die Gehirnorganisation und neue diagnostische Ansätze für neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Dabei setzt er auf Künstliche Intelligenz.

Michael Kühler: Zwischen Wahrnehmen und Begehren unterscheiden

"Sich von jemandem angezogen fühlen, ist etwa in polyamourösen Kreisen akzeptiert. In der klassischen Zweierbeziehung hingegen hat Exklusivität einen zentralen Wert. Wie weit aber reicht diese Exklusivität? Darf ich andere überhaupt nicht mehr attraktiv finden? Diese Vorstellung hat sich in der Praxis als sehr schwierig zu realisieren herausgestellt.

Prof. Dr. Michael Kühler
Prof. Dr. Michael Kühler © Fachhochschule Dortmund/Florian Freimuth

Jemanden anziehend zu finden, ist völlig normal. In der Philosophie spricht man von Affiziertsein: Ich sehe und bemerke andere Personen. Diese passive Wahrnehmung kann ich nicht bewusst steuern. Dafür kann ich qua Passivität also nicht verantwortlich gemacht werden. Die Frage ist: Was mache ich mit dieser Wahrnehmung? Mit welcher Haltung gehe ich mit Blick auf meine Wahrnehmungen von vornherein 'in die Welt'?

Es gibt hier einen spannenden Unterschied: Ich kann mit einer neutralen und distanzierten Haltung feststellen, dass eine Person nach gesellschaftlichen Massstäben attraktiv ist. Oder ich kann eine Haltung an den Tag legen, die andere darauf taxiert, inwiefern sie attraktiv für mich sind und ich Lust hätte, etwas mit dieser Person anzufangen. Für beide Haltungen bin ich durchaus verantwortlich, und es ist die Frage, welche der beiden Haltungen in der Partnerschaft akzeptiert wird.

Offene Kommunikation mit der Partnerperson ist also auch hier enorm wichtig. Und inwiefern der geliebten Person Exklusivität wichtig ist, worin sie besteht und worin eine Gefahr für die Zweierbeziehung gesehen wird, etwa eben in welcher der beiden Haltungen."

Zum Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
  • Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.

Torsten Geiling: Grenzen in der Beziehung abstecken

"Es ist ganz normal, dass man nach der Verliebtheitsphase wieder andere Menschen attraktiv findet. Die Frage ist immer, wie man damit umgeht.

Torsten Geiling
Torsten Geiling © Torsten Geiling

Man kann sich bewusst entscheiden: 'Ja, das ist reizvoll, aber ich weiss, was ich an meiner Beziehung habe, also lasse ich es.' Oder man entscheidet sich bewusst dafür, diesem Reiz nachzugehen und riskiert damit die Beziehung.

Es geht darum, für sich selbst zu klären, wie weit man gehen möchte. Und das sollte man auch mit seinem Partner oder seiner Partnerin besprechen. Wo liegt die Grenze in der Beziehung? Für die einen ist es okay zu flirten, aber körperliche Nähe ist tabu. Bei anderen sind Berührungen erlaubt.

Aber letztlich ist eine Beziehung immer auch ein Deal, bei dem man aushandelt, wo die eigenen Grenzen und die des Partners liegen, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, der für beide in Ordnung ist."

Zum Gesprächspartner

  • Torsten Geiling ist Kommunikationswissenschaftler und systemischer Coach. Er berät und begleitet Menschen, die eine Beziehung beenden wollen, vor, während und nach einer Trennung.
  • Er schreibt Ratgeberbücher wie "Ich will mich trennen". Sein neues Buch trägt den Titel "Du wusstest doch, dass ich Kinder habe!".

Paula Lambert: Selbstwert checken

"Das klingt ein bisschen nach 'Commitment-Issues', wie man es auf Neudeutsch sagt. Menschen attraktiv zu finden, ist völlig normal.

Paula Lambert
Paula Lambert © Lydia Gorges

Aber mit ihnen wirklich Sex haben zu wollen, während man in einer Beziehung ist, könnte darauf hindeuten, dass hier ein Selbstwertproblem vorliegt.

Jemand, der sehr viel Bestätigung braucht, weil er selbst nicht glaubt, dass er ein guter Typ ist, möchte sich diese von aussen holen oder ist es vielleicht sogar gewohnt, diese Bestätigung von aussen zu bekommen oder sich zu holen. Und eigentlich sind zwei in einer Beziehung genug. Da hat man genug zu tun, langfristig auch."

Zur Gesprächspartnerin

  • Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.

Sharon Brehm: Den Austausch suchen und eine gemeinsame Erfahrung daraus machen

"Was ich aus paartherapeutischer Perspektive mitgeben würde, ist: Ich bin nicht die Instanz, die entscheidet, was richtig oder falsch ist. Aber wenn wir über emotionale Sicherheit sprechen, dann gehören Affären und Untreue mitunter zu den schmerzhaftesten Erfahrungen in einer Beziehung.

Sharon Brehm
Dr. Sharon Brehm © Susanne Schramke

Deshalb würde ich empfehlen, bevor man einem Impuls nachgeht, zuerst das Gespräch mit der Partnerin oder dem Partner zu suchen. Es geht nicht darum, sofort die Beziehung zu öffnen, sondern darum, sich selbst besser zu verstehen. Man kann sich fragen: Geht es um den Reiz des Neuen? Geht es darum, dass ich manchmal einfach Träume oder Fantasien habe, die aber eher etwas Privates für mich sind? Oder geht es tatsächlich um den Wunsch, etwas mit anderen Menschen auszuprobieren?

Es kann auch einfach nur darum gehen, zu akzeptieren, dass es andere attraktive Menschen gibt. Und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das Gegenüber das genauso sieht. Sollte das den Partner verletzen, ist das etwas, womit man sich auseinandersetzen muss. Ich glaube, es geht um Commitment oder um einen Perspektivenwechsel. 'Ich sage das nicht, um dich eifersüchtig oder klein zu machen, sondern weil ich mit dir in den Austausch gehen möchte. Weil ich auch meine intimsten Gedanken mit dir teilen will – in der Hoffnung, dass daraus eine schöne, gemeinsame Erfahrung entstehen kann.' Also eher ein 'Lass uns daraus etwas Verbindendes machen', statt nur Angst und Unsicherheit zu erzeugen."

Zur Gesprächspartnerin

  • Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".

Tanja Hoyer: Über Exklusivität nachdenken

"Die Gedanken und Fantasien sind frei. Ich halte das für vollkommen legitim. Man darf sich im Kopf alles erlauben, fantasieren, schauen, was vielleicht spannend mit einer anderen Personen wäre.

Tanja Hoyer
Tanja Hoyer © privat

Unsere Gesellschaft und unsere Erziehung sagen, wir müssen exklusiv leben, in einer Beziehung mit nur einer Person. Und wir dürfen auch nur diesen einen Menschen sexy finden und dieser Mensch soll auch noch all unsere Bedürfnisse befriedigen. Wie kann das gehen? Es gibt so viele tolle Menschen da draussen. Wenn man ansonsten zufrieden bist, darf man seinen Kopf für alles nutzen, was man sich wünscht.

Aber wenn Gedanken nicht mehr reichen und Du kein offenes oder polyamouröses Arrangement hast, ist die Frage: Reicht die Fantasie? Wenn nicht, müsst ihr gemeinsam auf die Beziehung schauen. Könnte man die Beziehung öffnen oder etwas gemeinsam mit anderen machen, etwa in einen Swingerclub gehen?

Auch im Jahr 2025 ist es bei den Themen Sex doch immer noch so: Man muss exklusiv leben, sonst 'betrügt' man. Das stimmt aber so nicht, da steckt viel mehr dahinter."

Zur Gesprächspartnerin

  • Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
  • Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.

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