Über das Liebesleben zweier Menschen hat gefühlt die ganze Welt gelacht und geurteilt, nachdem die Kisscam bei einem Coldplay-Konzert zufällig ihre Affäre aufgedeckt hat. Aber warum eigentlich - und ist es eigentlich in Ordnung, die beiden so in die Öffentlichkeit zu zerren?
Ein paar Sekunden und der Zoom einer Kamera reichen, um das Leben zweier Menschen zu verändern. Eine Kisscam bei einem Coldplay-Konzert hat gezeigt, wie sich die beiden innig umarmen – allerdings nur so lange, bis sie merken, dass die Spotlights auf sie gerichtet sind. Wie sich später herausstellen wird, liegt Coldplay-Frontmann
Der Clip der beiden geht viral, bald stehen ihre Namen im Internet: Es handelt sich um einen verheirateten CEO und die Personalchefin derselben Firma. Mittlerweile arbeiten beide nicht mehr für das Unternehmen, das sich in einer Stellungnahme auch von den ehemaligen Mitarbeitenden distanziert hat. Menschen auf der ganzen Welt erstellen Memes und Videos über die beiden.
Und das alles wegen einer zufällig aufgedeckten Affäre. Ist das wirklich in Ordnung? Ethikprofessor Michael Kühler findet: Nein.
Herr Kühler, wie bewerten Sie "Coldplay-Gate" aus ethischer Sicht?
Michael Kühler: Ich sehe hier zwei verschiedene Dimensionen. Bei der einen geht es um die internen Policys von Unternehmen, vor allem in den USA. Da geht es um Regeln und professionelle Standards des Zusammenarbeitens. Als CEO sollte man natürlich mit gutem Beispiel vorangehen. Da tauchen ethische Perspektiven im Hintergrund aber sehr wohl auf, weil es nicht nur darum geht, ein professionelles Zusammenarbeiten zu ermöglichen, sondern auch um möglichen Machtmissbrauch und hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse. Gehen wir aber einmal davon aus, dass das alles bei den beiden tatsächlich freiwillig war, gibt es immer noch eine andere ethische Dimension. Hier geht es um die Frage: Was ist am Fremdgehen eigentlich so schlimm?
Und was ist am Fremdgehen so schlimm?
Ich würde argumentieren, dass es weniger darum geht, dass allein Sex mit einer anderen Person zu haben, per se schlimm ist. Das entscheidende Kriterium ist der Vertrauensbruch. Bei Affären steht die Annahme im Hintergrund, Menschen haben sich darauf geeinigt, Sex nur innerhalb der Beziehung zu haben – doch dann hält sich eine Person nicht daran. Und zwar ohne der ersten Person Bescheid zu sagen, ohne dass diese eventuell ihr ein Einverständnis hätte geben können, ohne dass diese überhaupt davon wusste. Hätten die Ehepaare eine offene oder polyamore Beziehung, wäre diese Offenheit und dieser Konsens in der Partnerschaft hingegen gegeben und es gäbe kein ethisches Problem.
Bei diesem aktuellen Beispiel hat man allerdings den Eindruck, es geht vor allem um das Pikante, um Sex und Stereotype wie "Der Schuft, der seine Frau betrügt" oder "Die andere Frau".
Ich glaube, diese Stereotypen sind hartnäckiger, als man denkt. Und gerade im aktuellen politischen Klima, das gerade wieder eher reaktionär umschlägt und die alten Rollenbilder verstärkt hervorkramen will, taucht all das auch wieder auf. Und dann muss man auch sagen, dass es häufig genug ja immer noch so ist, dass im statistischen Durchschnitt die Männer in der stärkeren, machtvolleren Position sind und die Frauen in der weniger starken Position. Auch hier, es war der CEO und die Personalchefin. Und dann hat man zusätzlich noch diese ganzen Geschlechterstereotype bei der Hand. Und die sind, wie gesagt, hartnäckiger, glaube ich, als man denkt. Die haben sich in bestimmten Kreisen, je nachdem in welcher Bubble man sich bewegt, nicht unbedingt verändert.
Ist die Art und Weise, wie wir über Fremdgehen sprechen, überholt?
Ich würde sagen, sie war schon immer zu undifferenziert. Fremdgehen ist ethisch problematisch, die Frage ist nur, was genau schlimm daran ist. Aus ethischer Sicht ist es nicht der sexuelle Aspekt, sondern der fehlende Konsens, das Hintergehen. Was aber immer in den Vordergrund gerückt wird, ist Sex. Also weil es Sex ist, soll es schlimm sein. Wenn man seine Partnerin jedoch hintergehen würde, mit Blick auf andere Dinge, dann ist das ethisch genauso schlimm, eben weil es ein Hintergehen ist. Das kommt in öffentlichen Debatten oft zu kurz. Es ist also nicht der Sex, sondern das Hintergehen, das die Sache ethisch kritikwürdig macht.
Liegt das vielleicht daran, dass "die Gesellschaft" ein Problem mit Sex hat? Oder immer noch nicht genau weiss, wie sie damit umgehen soll?
Ganz knapp: Ja. Sex gilt immer noch als irgendwas ganz Besonderes, dem viel angedichtet wird. Auch in der Philosophie findet man teilweise noch eine metaphysische Überhöhung, was bei der sexuellen Begegnung angeblich alles mitschwingen muss. Das kann für manche durchaus so sein, aber muss keineswegs für alle gelten.
Wie meinen Sie das?
Man kann zum Beispiel eine offene oder polyamore Beziehung als ethisch völlig akzeptable Option sehen. Eben weil sie auf Konsens basiert. Die angebliche Norm, Sex nur in einer Beziehung zu haben, kann man sich mit einem Bild vorstellen: Stellen Sie sich eine Wiese vor einer Strasse vor. Im Grunde können Sie entlanglaufen und die Strasse überqueren, wo Sie wollen. Aber im Laufe der Zeit hat sich ein Trampelpfad gebildet. Das wäre jetzt die monogame Beziehung mit dieser Normsexualität, Sex nur innerhalb der Beziehung zu haben. Und da laufen jetzt die meisten entlang. Ein paar wenige sagen, der Trampelpfad gefällt uns aber nicht, wir laufen woanders lang. Nur wird das den meisten eben auffallen: "Oh, die verlassen den Trampelpfad", obwohl der sich auch nur gebildet hat, weil am Anfang einfach sehr viele einfach immer wieder denselben Pfad benutzt haben.
Wie erklären sie sich, dass zwei Menschen, die diesen Trampelpfad vermutlich ohne das Wissen ihrer Partner verlassen, aktuell für so viel Aufmerksamkeit sorgen und viral gehen?
Wohl auch, weil sich jeder bei diesem Thema wiederfindet. Affären sind an sich nichts Ungewöhnliches. Vielleicht schwingt hier auch eine gewisse Schadenfreude mit rein: Endlich hat es mal die Richtigen, die Oberen, erwischt.
"Das Privatleben von Personen in die Öffentlichkeit zu zerren, ist in der Tat ethisch grundsätzlich problematisch."
Zu Beginn des Gesprächs haben Sie von Konsens gesprochen: Ist es dann nicht auch ein ethisches Problem, überhaupt diese Videos zu veröffentlichen, weil offensichtlich ist, dass diese zwei Menschen diese Aufmerksamkeit nicht wollen. Oder sind sie gewissermassen selbst schuld, weil sie an einem öffentlichen Platz waren?
Natürlich könnte man jetzt sagen, sie sind auf einem öffentlichen Konzert gewesen, da gibt es sowas wie diese Kisscams, die in Amerika üblich sind. Also dass man sagt, die lassen sich auch darauf ein, auf diese Situation. Andererseits könnte man aus ethischer Perspektive wieder argumentieren: Wenn ich das Konzert sehen will, ist es dann wirklich so freiwillig, dass ich mich auf die Bedingungen, die da herrschen, einlassen muss? Es gibt Personen öffentlichen Interesses, das sind die Ausnahmen. Aber das Privatleben von Personen in die Öffentlichkeit zu zerren, ist in der Tat ethisch grundsätzlich problematisch.
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
- Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.
- In unserem Frage-Antwort-Format "... und jetzt?" beantwortet er gemeinsam mit anderen Fachleuten Fragen rund um Liebe und Sex.
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