Als ihr Mann ins Pflegeheim kam, wurde Veronikas Leben still. Zu still. In ihrem neuen Zuhause hat sie genau das bunte Treiben gefunden, nach dem sie sich sehnte. Im Münchner Westen leben acht Seniorinnen gemeinsam in einer Wohngruppe. Ein Projekt, das zeigt, dass das Leben im Alter nicht einsam sein muss.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Alina Lingg. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Veronika musste in die Notaufnahme: Herzbeschwerden. Dort angekommen, griff sie direkt zum Telefon und rief Ruth an. "Jemand muss ja Bescheid wissen", sagt Veronika und blickt zu ihrer Freundin: "Allein zu wissen, dass jemand nebenan ist, gibt so viel Sicherheit."

Die beiden Damen sitzen in einem Gemeinschaftsraum an einem grossen Holztisch, der mit Tellern, Tassen und Gläsern, einem Wasserkrug und Blumen gedeckt ist. Es riecht nach frischem Kaffee und Keksen. Mit ihnen am Tisch: Marlies und Cäcilie. Mit ihrer Präsenz und Herzlichkeit verleihen die vier Seniorinnen, alle in ihren Siebzigern, dem funktionalen Raum Persönlichkeit und lassen ihn wie ein Zuhause wirken.

Seniorinnen Tisch Gemeinschaftsraum Wohngruppe
Cäcilie, Ruth und Veronika (v.l.n.r.) sitzen im Gemeinschaftsraum ihrer Wohngruppe. © Alina Lingg

Was wie ein geplantes Kaffeekränzchen wirkt, ist in diesem Wohnhaus Alltag. Kein Familienbesuch, kein festliches Treffen, sondern ein Blick in ein Wohnkonzept, das Einsamkeit im Alter nicht als Schicksal akzeptiert: das Projekt des Vereins "Nachbarschaftlich leben für Frauen im Alter". Christa Lippmann gründete das Projekt 1991 und führt den gemeinnützigen Verein bis heute.

In dem Haus im Münchner Westen leben acht Seniorinnen zusammen in einer Wohngruppe – und doch jede für sich in Einzelwohnungen. Die Damen teilen sich einen Gemeinschaftsraum, gemeinsame Hobbys, Teile ihres Alltags und denselben Wunsch: im Alter nicht allein zu sein.

Wohnhaus München
Die Seniorinnen leben im fünften von bislang sechs Wohnprojekten des Vereins. © Alina Lingg

Gemeinsam statt einsam

Die Idee hinter dem Projekt ist ebenso einfach wie wegweisend: Alleinstehende Seniorinnen, die ihr Berufsleben hinter sich haben und oft auf sich gestellt sind, finden in geförderten Mietwohnungen zusammen. Für viele von ihnen ist es eine Alternative zum vorzeitigen Umzug in ein Altersheim. Eine Mischung aus Selbstbestimmung und gegenseitiger Unterstützung, aus realem Miteinander und sozialer Utopie.

Das Konzept des Vereins trifft den Nerv der Zeit. Immer mehr ältere Menschen leben allein. Im Jahr 2024 wohnten in Deutschland mehr als ein Drittel (35 Prozent) der Menschen ab 65 Jahren in Einzelhaushalten. Besonders betroffen: Frauen. Sie leben mehr als doppelt so häufig allein wie Männer. Für viele oft nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine emotionale Herausforderung.

"Ich war in einer echten Lebenskrise", erzählt etwa Marlies. Die Worte hängen schwer in der Luft, doch sie spricht sie mit einer ruhigen, festen Stimme. Sie sitzt aufrecht, die eine Hand in ihrem Schoss, die andere an der Kaffeetasse. Ihre kurzen weissen Haare rahmen ein Gesicht, das Geschichten trägt wie andere Menschen Schmuck. Die Augen wach, der Blick klar und direkt.

"Ich wusste: Wenn ich weiterleben will, muss ich eine Wohnalternative finden."

Marlies

Nach dem Tod ihres Mannes ging es ihr sehr schlecht, sie lag im Krankenhaus. "Ich wusste: Wenn ich weiterleben will, muss ich eine Wohnalternative finden. Ich wollte auf keinen Fall allein leben." Noch im Krankenhaus griff sie zu ihrem Smartphone und recherchierte im Internet, bis sie auf die Webseite des Projekts stiess. Sie ging zu Infoveranstaltungen, lernte die Frauen kennen, die damals Fremde, heute ihre engen Freundinnen sind. "Es war total nett und ganz easy", sagt sie und lächelt dabei warm. Die dunkle Lebensphase von damals ist nur noch eine ferne Erinnerung.

Wo Worte durch die Luft fliegen

Ein halbes Jahr lang lernten sich die Frauen kennen, sprachen über Erwartungen, Konflikte und mögliche Stolpersteine: Könnte die Einzimmerwohnung zu klein, der Gruppendruck zu hoch sein? Wie viel Nähe verträgt der Alltag und wie viel Distanz ist nötig, damit das Zusammenleben gelingt?

Die Gruppen, die der Verein zusammenstellt, sind klein, die Auswahl sorgfältig. Nicht jede passt in die Konstellation – Gemeinschaft will gelernt sein. Begleitet werden die Seniorinnen vorab von einer Psychologin, die sie auf das Zusammenleben vorbereitet. Auch nach dem Einzug bleibt sie Ansprechpartnerin bei möglichen Konflikten. Marlies, Veronika, Cäcilie und Ruth mussten sie noch nie wegen Problemen kontaktieren.

Bakone Wohnhaus
Die Balkone von Veronika, Ruth und Elke liegen übereinander. © Alina Lingg

Für Ruth begann der Weg in die Wohngruppe mit gesundheitlichen Herausforderungen: Sie wohnte im dritten Stock, ohne Aufzug, Wendeltreppe. "Ich hatte Probleme mit dem Knie und wusste: Ich werde nicht mehr jünger", erzählt sie. Inzwischen trägt sie ein Lächeln, als hätte sie es aus ihrer Jugend mitgenommen – fast spitzbübisch.

Sie wohnt nun im zweiten Stock, barrierefrei, auf rund 40 Quadratmetern, mit eigenem Bad, eigener Küche und einem Balkon, von dem aus sie oft vertraute Stimmen hört: Veronika, die direkt unter ihr wohnt, oder Elke, direkt darüber. Dann schallt ein Gruss nach oben oder ein Lachen nach unten.

Gegen einen stillen Alltag

Veronika hingegen brauchte Veränderung: Da ihr Mann im Pflegeheim lebte, wurde ihr Alltag stiller. Zu still. Dabei ist Veronika alles andere als leise. Ihr Kleid ist voller Farben und Formen, ihr Lächeln breit und ehrlich. Sie findet in dieser Wohngruppe genau das bunte Treiben, nach dem sie sich sehnte.

Die Vierte in der Runde, Cäcilie, rutschte eher kurzfristig in die Wohngruppe. Zwischen Kaffee und Gesprächen sitzt sie nun aber hier, als sei es schon immer ihr Plan gewesen. Eingezogen sind alle im April 2019. Insgesamt sind sie zu acht. Zum Kaffee haben sich an diesem Tag nur vier von ihnen verabredet, die anderen hatten bereits Pläne. Rückzug ist jederzeit möglich und wird respektiert. Das Projekt lebt von Balance: Nähe ohne Enge. Hilfe ohne Bevormundung. Freundschaft ohne Zwang. "Ein bisschen Gruppendruck gibt’s schon", sagt Marlies mit einem Augenzwinkern, "aber das ist gar nicht so schlecht."

Ob gemeinsame Sportkurse, Opernbesuche, Spieleabende, spontane Kochaktionen oder einfach nur Einkaufen – der Alltag der Seniorinnen ist bunt und geprägt von Austausch. Auch sonst ist Verlass aufeinander: Wird jemand krank, begleiten sich die Frauen zur Apotheke, verständigen Angehörige oder passen auf die Haustiere der jeweils anderen auf.

gemeinschaftsraum Wohngruppe
Wann sich die Seniorinnen im Gemeinschaftsraum treffen, machen sie meist via WhatsApp aus – manchmal treffen sie dort aber auch spontan aufeinander. © Alina Lingg

Häufig treffen sie sich im Gemeinschaftsraum, dem Herzstück der Wohngruppe. Hier wird gestrickt, gekocht, gefeiert, diskutiert und getratscht. Zwei Plakate des Vereins mit der Aufschrift "Warum einsam? Lebt gemeinsam!" prangen an den Wänden. In einer Ecke: ein Regal mit Brettspielen. Daneben ein Handarbeitskorb. Es ist ein Raum der Möglichkeiten – wenn ihn jemand mit Leben füllt. Und genau das machen die Seniorinnen Tag für Tag: Mal nur unter sich, mal bieten sie Treffen für die gesamte Hausgemeinschaft an. Allerdings würden nur wenige Nachbarn das Angebot der Damen wahrnehmen.

Gemeinsam leben – mit kleinen Kompromissen

Streit und Probleme gibt es zwischen den Damen so gut wie nie. Damals, während der Corona-Pandemie, hatten sie teils konträre Meinungen. Heute wissen sie, welche Themen sie besser aussparen, damit es erst gar nicht zu Unstimmigkeiten kommt. "Jede hat ihre Macken – aber wir wissen, wir können uns aufeinander verlassen", sagt Cäcilie. Ihre Freundinnen nicken zustimmend.

Die Frauen empfehlen diese Art des Wohnens jeder Seniorin, die offen, tolerant, humorvoll und empathisch ist. Aber: Die Wohnungen sind rar, das Interesse gross. Es brauche mehr solcher Konzepte, findet Cäcilie. Denn die demografische Entwicklung lasse erahnen: Die Frage, wie wir im Alter leben wollen, wird immer wichtiger. Die Antwort lautet für Cäcilie: selbstbestimmt, bezahlbar und gemeinschaftlich.

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Wo Kaffee mehr als nur Kaffee ist

"Ich trinke noch eine Tasse und bleibe noch sitzen", sagt Veronika. Ihre drei Freundinnen schliessen sich dem Plan an. Cäcilie und Marlies vertiefen sich gleich darauf in ihre Wochenendplanung: An den Starnberger See zum Schwimmen soll es gehen. Ruth zögert noch, sie war seit einigen Monaten nicht mehr schwimmen. Letztes Jahr war sie einmal dabei. Sie erzählt von ihrem persönlichen "schönsten Moment", den sie mit der Wohngruppe erlebt hat: drei Frauen, ein spontaner Entschluss, kaltes Wasser, ein früher Morgen im See. "Es war wunderbar", sagt sie. "Allein hätte ich das nie gemacht."

Vier Seniorinnen. Ein Plan fürs Wochenende. Ein halbleerer Keksteller. Ein Gemeinschaftsraum – und ein geteiltes Lebensprinzip: Zusammen ist besser als allein.

Über den Verein "Nachbarschaftlich leben für Frauen im Alter"

  • Der gemeinnützige Verein wurde 1991 von Dr. Christa Lippmann gegründet. Seit nunmehr 34 Jahren führt sie den gemeinnützigen Verein, um die Wohn- und Lebensbedingungen älterer alleinstehender Frauen zu verbessern. Er wird durch Spenden finanziert.
  • Die Wohngruppe der vier porträtierten Seniorinnen ist das fünfte von insgesamt sechs Projekten des Vereins in München. Die Wohnungen werden durch das München Modell gefördert.
  • Werden geförderte Mietwohnungen gefunden, werden die Wohnungen im Verein ausgeschrieben und eine Gruppe von interessierten Frauen gebildet. Nach einem halben Jahr kommunikativen Trainings mit einer Psychologin erfolgt der gleichzeitige Einzug in die neuen Wohnungen. Dann begleitet die Psychologin die Gruppe noch ein Jahr.

Verwendete Quellen