Chan-jo Jun sieht die Bundesregierung in der Pflicht, ein AfD-Verbot zu beantragen. Politische Argumente dürften die im Grundgesetz vorgesehene rechtlichen Prüfung durch Karlsruhe nicht verhindern, sagt der bayerische Verfassungsrichter im RiffReporter-Interview. Bleibt ein Verbotsantrag aus, sei auch eine Verfassungsbeschwerde von Bürger:innen denkbar.
Anfang Mai stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz die gesamte AfD als gesichert rechtsextremistisch ein. Sein mehr als 1.100 Seiten langes Gutachten übergab der Geheimdienst offiziell nur dem Bundesinnenministerium, doch inzwischen haben mehrere Medien das Dokument zugespielt bekommen und veröffentlicht. Die Partei klagt gegen die Einstufung, ein Urteil dazu steht noch aus.
Zugleich hat das Gutachten die seit Jahren lodernde Debatte über ein Parteiverbotsverfahren neu befeuert. Bisher haben dies jedoch weder die Bundesregierung noch der Bundestag oder der Bundesrat beantragt – das Bundesverfassungsgericht hat daher keine Möglichkeit zu prüfen, ob die AfD verfassungswidrig ist und verboten werden müsste. Im Interview mit RiffReporter erklärt der Anwalt und bayerische Verfassungsrichter Chan-jo Jun, warum es problematisch ist, dass eine im Grundgesetz vorgesehene Prüfung bisher an politischen Argumenten scheitert. Aus seiner Sicht wäre ein Verbotsverfahren ein Erfolg – gleich, wie es ausgeht.
Herr Jun, trauen Sie sich eine Einschätzung zu, zu welchem Ergebnis ein mögliches AfD-Verbotsverfahren zum heutigen Zeitpunkt kommen würde?
Ja. Wenn sich die AfD ab heute nicht mehr verändern und das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung aus dem Verfahren gegen die Partei "Die Heimat" nicht über den Haufen werfen würde, wären die Voraussetzungen für ein Parteiverbot erfüllt. [Im Januar 2024 hatte das Gericht die NPD-Nachfolgepartei "Die Heimat" als verfassungswidrig eingestuft und von der Parteienfinanzierung ausgeschlossen, Ich halte es aber für wahrscheinlich, dass die AfD in den kommenden Jahren alles dafür tun wird, ein Verbot zu verhindern. Wenn sie juristisch gut beraten ist, entfernt sie alle Protagonisten, die Material für das Gutachten des Verfassungsschutzes geliefert haben, aus der Partei – damit nichts, was sie sagen, noch der AfD zugerechnet werden kann. Ich hielte das für eine gute Entwicklung.
Zur Person
- Chan-jo Jun kam 1974 als Sohn von Einwanderern aus Südkorea in Verden an der Aller (Niedersachsen) zur Welt. Er betreibt eine Rechtsanwaltskanzlei für IT- und Wirtschaftsrecht in Würzburg. Ende 2022 wählte ihn der bayerische Landtag auf Vorschlag der Grünen-Fraktion zum Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Jun hat bereits mehrere Verfahren gegen Social-Media-Konzerne wie Meta und Twitter geführt, um gegen Hassrede und Volksverhetzung auf den Plattformen vorzugehen. 2023 verlieh die Landtagspräsidentin des Freistaates, die CSU-Politikerin Ilse Aigner, dem Anwalt den Bayerischen Verfassungsorden.
Seit Jahren wird über einen Antrag auf ein AfD-Verbot diskutiert. Dass es dazu bisher nicht kommt, liegt auch an der Angst vor einem Scheitern. Wie bewerten Sie es, dass eine solche Sorge eine im Grundgesetz vorgesehene Prüfung verhindert?
Ich halte ein Verbotsverfahren, das nicht mit einem Verbot endet, sogar für ein sehr erstrebenswertes Ziel. Denn das würde bedeuten, dass sich die AfD fundamental demokratisiert hätte. Eine solche Partei muss dann nicht mehr verboten werden, sie könnte Teil des Parteienspektrums bleiben. Von einem Scheitern würde ich nur dann sprechen, wenn das Verfassungsgericht trotz einer weiter voranschreitenden Radikalisierung der AfD nicht in die Lage versetzt würde, die Beweise für eine Verfassungsfeindlichkeit zu prüfen.
Ein Verbotsverfahren müssen Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung beantragen. Die Entscheidung liegt also in der Hand von Parteipolitikern. Bundeskanzler Friedrich Merz äusserte sich zuletzt skeptisch, da ein Antrag wie der Versuch einer "Konkurrenzbeseitigung" wirken könne. Halten Sie es für problematisch, wenn anhand politischer Argumente entschieden wird, ob eine rechtliche Frage – ob eine Partei verfassungswidrig ist oder nicht – überhaupt geprüft wird?
Absolut. Das Grundgesetz hat das Parteiverbotsverfahren als Gegenstück zum Parteiprivileg angelegt. Eine materiell verfassungsfeindliche Partei geniesst ganz viele Privilegien, so lange sie nicht formell verboten ist. Bei der AfD gibt es dringende Anhaltspunkte dafür, dass sie verfassungsfeindlich ist. Aber kein Gericht und keine Behörde kann das berücksichtigen, zum Beispiel beim Zugang zu Stadthallen für Parteiveranstaltungen oder zu Finanzmitteln. Wenn Politiker aus rein politischen Gründen – ob aus Opportunität oder aus Angst vor dem Machtverlust – ein Verbotsverfahren nicht beantragen, bringen sie unser verfassungsmässiges Gleichgewicht durcheinander. Denn das Parteiprivileg besteht fort, es fehlt aber die Möglichkeit eines Korrektivs.
Widerspricht es nicht der Verfassung, wenn das oberste Gericht einen Verdachtsfall gar nicht erst prüfen kann? Immerhin legt das Grundgesetz klar fest: Eine Partei, die die freiheitliche demokratische Grundordnung gefährdet, ist verfassungswidrig und damit verboten.
Es gibt die Rechtsauffassung, dass die Verfassungsorgane dazu verpflichtet sind, einen Verbotsantrag zu stellen, wenn dringende Anhaltspunkte für die Verfassungsfeindlichkeit vorliegen. Ich halte es von unserer Rechtssystematik her für plausibel, aber das ist noch nie gerichtlich geprüft worden. Wahrscheinlich besteht eine rechtliche, auf jeden Fall aber eine moralische Pflicht, einen Verbotsantrag zu stellen und damit die rechtliche Prüfung zu ermöglichen. Ich bin auch davon überzeugt, dass ein Bundestagsabgeordneter nur dann gegen einen Prüfantrag stimmen sollte, wenn er sich hundertprozentig sicher ist, dass die AfD verfassungstreu ist.
"Denkbar ist, dass ein Bürger eine Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesregierung einreicht."
Falls es eine Antragspflicht gibt, der Antrag aber dennoch ausbleibt: Wie liesse sich die Verpflichtung durchsetzen?
Denkbar ist, dass ein Bürger eine Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesregierung einreicht. Dazu müsste er vorbringen, dass er in seinen Rechten beeinträchtigt ist, weil ein Verbotsantrag unterlassen wird. Er müsste also belegen, dass er durch das Fortbestehens des Parteiprivilegs Nachteile erleidet – zum Beispiel ein Mensch, der aufgrund der verfassungsfeindlichen Remigrationspläne der AfD in seiner Menschenwürde verletzt wird. Wahrscheinlich wäre es nicht einfach nachzuweisen, dass die Nachteile kausal auf das Fortbestehen der Partei zurückgehen. Aber es würde sich lohnen, einen solchen Fall zu prüfen.
Das klingt, als würden Sie sich bereits näher damit befassen…
Nicht konkret. Nach Vorlage des Verfassungsschutzgutachtens muss den Organen jetzt ausreichend Zeit geben, das zu prüfen und zu überdenken. Es kommt aber der Zeitpunkt, zu dem sich die Bundesregierung positioniert. Wenn sie einen Antrag ablehnt, halte ich es für denkbar, dass sie durch eine Verfassungsbeschwerde dazu verpflichtet werden kann. Ich werde diese Möglichkeit weiter öffentlich diskutieren.
Wäre es richtig, das Verfahren für ein Parteiverbot zu ändern und auch anderen die Möglichkeit zu geben, einen Verbotsantrag zu stellen?
Möglich ist das, denn das Grundgesetz schreibt nicht vor, dass nur drei Verfassungsorgane den Antrag stellen können. Das steht im Bundesverfassungsgerichtsgesetz und kann jederzeit vom Bundestag geändert werden. Man könnte ein Parteienverbot zum Gegenstand einer Popularklage machen, so dass jeder Bürger den Antrag in Karlsruhe einreichen könnte, oder wie bei der abstrakten Normenkontrolle einen Antragsrecht für Fraktionen des Bundestages oder Landesregierungen vorsehen. Dann gäbe es wahrscheinlich viele Verbotsanträge, die das Gericht dann bündeln könnte – das wäre wie ein regelmässiger Verfassungs-TÜV für Parteien. Wir sollten solche gesetzlichen Alternativen prüfen, wenn dafür die Aussicht auf eine Mehrheit im Bundestag besteht. Denn die Situation, dass aus politischen Gründen eine verfassungsmässige Prüfung verhindert wird, ist nur schwer erträglich.
"Der Verfassungsschutz hat gar keine V-Leute oder verdeckten Ermittlungsmassnahmen gebraucht."
Wäre ein Verbotsantrag von Bürgern überhaupt realistisch? Bei den Verfahren spielen regelmässig Geheimdienstinformationen eine wichtige Rolle, auf die die Bürger normalerweise keinen Zugriff haben.
Aus diesem Grund sehen es manche auch kritisch, wenn der Bundestag den Antrag auf ein AfD-Verbot stellen würde, denn auch die Abgeordneten können nicht einfach auf die Erkenntnisse der Nachrichtendienste zugreifen. Am besten wäre sicher, wenn die Bundesregierung den Antrag stellt. Andererseits wissen wir heute: Der Verfassungsschutz hat gar keine V-Leute oder verdeckten Ermittlungsmassnahmen gebraucht, um hinreichende Beweise für die Verfassungsfeindlichkeit zusammenzutragen. Es reichen also auch öffentlich verfügbare Quellen.
Ein NPD-Verbotsverfahren scheiterte daran, dass die rechtsextreme Partei zum Zeitpunkt des Verfahrens zu klein und unbedeutend war. Gegen ein AfD-Verbotsverfahren gibt es das umgekehrte Argument, dass die Partei inzwischen zu gross sei – in manchen Bundesländern erhält sie ein Drittel der Wählerstimmen. Ist das juristisch relevant?
Natürlich nicht. Das NPD-Verfahren scheiterte, weil das Kriterium der Potenzialität nicht erfüllt war: Die NPD hatte zu diesem Zeitpunkt keine Mandate und keine Aussicht, verfassungsfeindliche Ziele umzusetzen. Das ist bei der AfD auf jeden Fall anders. Dass eine Partei zu gross ist, ist ein rein politisches Argument. Natürlich würde ein Verbot nicht das Problem lösen, weshalb eine extremistische Partei so erfolgreich werden konnte, aber das hat keinerlei Einfluss auf den Ausgang eines Verbotsverfahrens.
Wäre als mildere Alternative zu einem Verbot der Ausschluss der AfD von der staatlichen Parteienfinanzierbar heute leichter durchsetzbar?
Die Anforderungen dafür sind fast identisch wie bei einem ein Verbot. Es entfällt nur die Voraussetzung der Potenzialität, aber die ist bei der AfD ohnehin erfüllt. Die anderen Kriterien – dass die Partei verfassungsfeindliche Ziele verfolgt und dabei aggressiv kämpferisch vorgeht, müssen auch für den Ausschluss von der Finanzierung erfüllt sein. Wenn dies in Karlsruhe durchginge, haben wir es also auch mit einer verfassungswidrigen Partei zu tun. Es wäre daher tragisch, wenn man nur auf den Finanzausschluss setzt und das Verbot nicht mit beantragt.
Verwendete Quellen
- Bundesverfassungsgericht: Die Partei Die Heimat (vormals NPD) ist für die Dauer von sechs Jahren von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen
- Bayerischer Landtag: Bayerischer Verfassungsorden 2023 an 47 Persönlichkeiten verliehen
- riffreporter.de: Wahlen in Sachsen und Thüringen: "Der Kontrollverlust gehört mittlerweile zur DNA des Ostens"
- riffreporter.de: AFD-Pläne für Remigration: Das schrieb Björn Höcke schon vor fünf Jahren
- riffreporter.de: Das Buch der Stunde: Was auf eine "Machtübernahme" der AfD folgen würde
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