Das israelische Sicherheitskabinett hat in der Nacht zum Freitag beschlossen, Gaza-Stadt einzunehmen. Das israelische Militär bereitet nun eine neue Offensive vor. International gibt es Kritik und auch in Israel regt sich Widerstand gegen den Vorstoss von Premier Netanyahu.
Nun soll es zwar nicht der gesamte Gazastreifen werden, aber zumindest die grösste Stadt des Gebietes, Gaza-Stadt, will die israelische Armee vollständig kontrollieren. Bisher hat sie nach eigenen Angaben 75 Prozent des Gebietes unter ihrer Kontrolle. Eine weitere Offensive zur Eroberung der verbliebenen 25 Prozent hat das israelische Sicherheitskabinett in der Nacht zum Freitag beschlossen.
Israels Premier
Heftige Kritik an Netanjahus Plänen
International regt sich Kritik an dem Vorgehen. Auch vor dem Hintergrund, dass nach wie vor grosse Teile der Bevölkerung in Gaza unter Hunger leidet, wird eine erneute Offensive als unnötige Eskalation wahrgenommen. Auch die USA hatten gehofft, dass Israel und die Hamas bei den Gesprächen in Doha eine Einigung erzielen, inklusive einer Rückkehr der noch immer von den Islamisten versteckt gehaltenen israelischen Geiseln. Doch die Gespräche gediehen nicht so weit.
Auch in Israel selbst wird die Kritik an Netanjahu lauter. Der Generalstabschef der israelischen Armee, Eyal Zamir, hat israelischen Medienberichten zufolge gegen ein weiteres Vorgehen protestiert. Er fürchtet Opfer unter den verbliebenen Geiseln und unter seiner Truppe. Das Vorgehen im Häuserkampf gilt auch wegen der vielen Tunnel unter Gaza als sehr gefährlich.
Israelische Opposition macht mobil
Und auch die israelische Opposition macht mobil gegen den Plan. Oppositionsführer Jair Lapid warnte laut "Jüdischer Allgemeiner" vor einer "Katastrophe für Generationen". Er sieht die ultrarechten Kabinettsmitglieder Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich als Verantwortliche hinter der jüngsten Eskalation, sie hätten ihm zufolge Netanjahu zu diesem Plan gedrängt.
Auch Militär-Experte Ralph Thiele erkennt, dass Druck auf den Premier ausgeübt wird – wenn auch aus einer anderen Richtung. Er erklärt gegenüber unserer Redaktion: "Hinter den Kulissen gibt es Druck auf Netanjahu, doch noch einen Geiseldeal einzugehen." Trotzdem geht Thiele davon aus, dass der israelische Premier seinen Plan nun umsetzen wird. Netanjahu habe eine Entscheidung getroffen und wolle die Hamas ein für allemal vernichten.
Grösserer Plan für den Gazastreifen
Dahinter verbirgt sich möglicherweise ein noch grösserer Plan, der auch die anderen Palästinenser in der Region betreffen würde: "Hinter dieser Offensive steht eine Ordnung, die ohne Hamas und ohne die Palästinensische Autonomiebehörde auskommen soll", sagt Thiele. Demnach könnten Ägypten und Jordanien zumindest übergangsweise die Kontrolle über die Palästinensergebiete in Gaza und dem Westjordanland übernehmen, um anschliessend über eine langfristige Lösung zu beraten.
Thiele geht davon aus, dass die Offensive in den nächsten Wochen starten könnte, sobald die Reservisten eingezogen wurden. Eine vollständige Eroberung könnte aber bis zu fünf Monate dauern. Und auch dann könnte es noch Jahre dauern, bis der Gazastreifen wirklich befriedet und eine dauerhafte Ordnung installiert ist, denn verbliebene Widerstandsnester lassen sich in dem verwinkelten urbanen Gelände mit zahlreichen Tunneln nur schwer ausschalten. Er geht von einem verlustreichen Kampf aus, der der israelischen Armee in den kommenden Wochen bevorsteht. Auch für die Geiseln sieht er nun mehr wenig Hoffnung auf Rettung.
Netanjahu unter Druck
Der israelische Premier verspricht sich von diesem entscheidenden Schlag offenbar auch einen innenpolitischen Vorteil. Seit einer kontroversen Justizreform im Frühjahr 2023 war er zunehmend in der Kritik. Gegen ihn laufen Verfahren wegen Korruption und Einflussnahme.
International wird Netanjahu wegen des Vorgehens der israelischen Armee in Gaza mit einem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gesucht. Und auch politisch steht er massiv unter Druck. Ihm wird die politische Verantwortung auf israelischer Seite für das Massaker durch die Hamas am 7. Oktober 2023 gegeben. Er hatte wichtige Einheiten ins Westjordanland verlegen lassen, um Siedler zu schützen, statt sie an der Grenze zum Gazastreifen zu belassen. Hinweise von Nachrichtendiensten, die auf vermehrte Aktivität der Hamas im Gazastreifen hinwiesen, wurden ignoriert.
Empfehlungen der Redaktion
Ralph Thiele ist sich allerdings sicher, dass "diese Offensive Netanjahu politisch nicht retten" wird. Er geht davon aus, dass der israelische Premier spätestens nach dem Ende des Krieges zur Verantwortung gezogen wird. Als Beispiel nennt Thiele die israelische Premierministerin Golda Meir, die in der Folge des überraschenden Angriffs der arabischen Staaten im Jom-Kippur-Krieg 1973 zurücktrat, da sie Hinweise auf den bevorstehenden Angriff durch den jordanischen König Hussein I. ignoriert hatte. So könnte sich auch Netanjahu nach der Beendigung der Kämpfe zum Rücktritt gezwungen sehen.
Über den Gesprächspartner
- Ralph Thiele ist Oberst a.D. und Diplom-Kaufmann. Nach seiner militärischen Karriere entschied sich Thiele für das zivile Leben und ist heute unter anderem Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft sowie Präsident von EuroDefense (Deutschland). Während seiner militärischen Laufbahn gehörte er etwa zum Planungsstab des Verteidigungsministers und zum Private Office des Nato-Oberbefehlshabers.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Ralph Thiele
- Juedische-allgemeine.de: Opposition warnt vor "Katastrophe für Generationen"