In Gaza gibt es Hoffnung auf Frieden. Doch selbst wenn der Waffenstillstand hält, bleibt die Aufgabe des Wiederaufbaus riesig. Der Sprecher des Kinderhilfswerks UNICEF, James Elder, sagt: Dieses Projekt wird nicht nach zwölf Monaten beendet sein.

Ein Interview

Die Welt schaut in diesen Tagen wieder einmal in den Nahen Osten. Aber dieses Mal mit leiser Hoffnung. Nach dem Überfall der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden zwei Jahre andauernden Krieg Israels gegen die Hamas erscheint der Frieden greifbar. Die ersten Schritte des Friedensplans von US-Präsident Donald Trump sind umgesetzt.

Doch wie geht es jetzt weiter im Gazastreifen, nach zwei Jahren Krieg, unter dem die Zivilbevölkerung massiv gelitten hat?

James Elder war seit dem 7. Oktober 2023 sechs Mal vor Ort, zuletzt in der vergangenen Woche. Bei einem Besuch in Berlin berichtet der Sprecher des UN-Kinderhilfswerks UNICEF von seinen Eindrücken – und von den Aufgaben, die jetzt zu erledigen sind.

Herr Elder, die meisten Menschen hierzulande kennen die Bilder der Zerstörung in Gaza nur aus den Medien. Sie waren vor Ort – was macht den Unterschied aus?

James Elder. © IMAGO/TT/Josefine Stenersen/SVD

James Elder: Es übertrifft alles, was ich bisher in Krisengebieten gesehen habe. Man sieht Trümmer überall um sich herum, 360 Grad. Zunächst nahmen Familien noch andere Familien in ihren Häusern auf – aber dann wurden auch ihre eigenen Häuser zerstört. Die Familien leben in Zelten, viele mit einem Eimer vor dem Eingang, weil die Abwasserleitungen zerstört wurden. Kinder haben keine warme Kleidung, bekommen nur eine Mahlzeit am Tag. Wenn Eltern mit ihren kranken Kindern ins Krankenhaus gehen, müssen sie meistens sofort wieder umkehren – weil die Krankenhäuser alle Kräfte brauchen, um Menschen mit schweren Verletzungen zu versorgen.

Wie haben Sie die Lage in den Krankenhäusern erlebt?

Ein Krankenhaus in Gaza sieht auf den ersten Blick aus wie ein normales Krankenhaus. Doch überall liegen Verwundete – Zimmer an Zimmer, auf den Fluren – überall hört man die Schreie von Kindern und Erwachsenen. Als ich im Juni schon einmal vor Ort war, waren die Schmerzen und das Leid unüberhörbar – weil es kaum Schmerzmittel gab.

"Wenn dir alles genommen wurde – dein Haus, dein Besitz, vielleicht sogar deine Angehörigen – dann bleibt dir nur noch die Hoffnung."

UNICEF-Sprecher James Elder

Sie waren in der vergangenen Woche erneut vor Ort. Da galt der Waffenstillstand noch nicht, aber es gab bereits den Friedensplan der Amerikaner und die Hoffnung auf Frieden. Haben die Menschen in Gaza diese Hoffnung auch?

In der Vergangenheit haben sie schon häufig die Erfahrung gemacht, dass Waffenruhen nicht gehalten wurden. Trotzdem halten die Menschen im Gazastreifen stark an ihrer Hoffnung fest. Wenn dir alles genommen wurde – dein Haus, dein Besitz, vielleicht sogar deine Angehörigen – dann bleibt dir nur noch die Hoffnung. Das ist alles, worüber du noch Kontrolle hast. Die Palästinenser sind aber auch sehr klug, viele von ihnen sind sehr gut ausgebildet. Sie sind sich natürlich darüber bewusst, wie enorm die Aufgabe ist, die jetzt vor ihnen liegt.

Während des Krieges haben Nichtregierungsorganisationen und viele Politiker kritisiert, dass die israelische Regierung viel zu wenig Hilfslieferungen in den Gazastreifen zulässt. Jetzt heisst es im Friedensplan: Die gesamte Hilfsgütermenge wird umgehend in das Gebiet geschickt. Funktioniert das bereits?

In den letzten Tagen haben die UNICEF-Teams unter anderem neue Zelte, Hygieneartikel und Winterkleidung geliefert. Bisher merken wir jedoch noch keine spürbaren Veränderungen. Am Montag wurden Unterrichtsmaterialien und Antigene für Impfkampagnen nicht hineingelassen. Wir haben uns lange auf diesen Moment vorbereitet. Wenn wir vollen Zugang bekommen, können wir 50 Lkw mit Hilfsgütern pro Tag in den Gazastreifen bringen.

Was sind in der kommenden Zeit die wichtigsten Aufgaben für UNICEF?

Wir haben schon vor der Waffenruhe Lieferungen vorbereitet, um Kinder auf den Winter vorzubereiten. Für jedes Kind halten wir warme Decken und Winterkleidung bereit. Die Immunsysteme der Kinder sind bereits stark geschwächt. Wenn sie den nächsten Winter in Zelten verbringen müssen, ist das für manche von ihnen ein Todesurteil. Ich war verblüfft, wie wenig Kinder über Schuhe verfügen. In der Geburtshilfe ist die Lage ebenfalls desaströs, es mangelt an Brutkästen für Neugeborene. Ganz wichtig sind auch der Wiederaufbau der Wasser- und Abwasserversorgung sowie Spezialnahrung für mangelernährte Kinder.

Glauben Sie, dass die israelische Regierung Ihre Haltung zu Hilfslieferungen ändern wird?

Das kann ich nicht einschätzen. Wenn die israelische Regierung befürchtet, dass Hilfsgüter geplündert werden oder in die falschen Hände geraten, können wir darüber sprechen, wie sich das verhindern lässt. Bis jetzt gab es jedoch keine Beweise dafür. Abgesehen davon liefert UNICEF die Hilfsgüter bis dorthin, wo sie verteilt werden.

Unklar ist derzeit, wer in der nächsten Zeit in Gaza das Sagen hat – ob die Hamas dort wirklich alle Macht abgibt. Inwiefern betrifft das Ihre Arbeit?

Wir arbeiten mit den örtlichen Behörden so weit zusammen, wie es nötig ist, um Hilfe für Kinder zu leisten – egal wer regiert. Unsere Teams müssen ihre Arbeit sicher leisten können. Vielleicht wird es ein Machtvakuum geben. Für uns gilt aber: Wenn wir die Zugänge bekommen, können wir unsere Arbeit machen.

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Kinder in Gaza haben in den vergangenen Jahren unter Hunger gelitten, konnten nicht zur Schule gehen – viele haben Angehörige verloren. Was bedeutet das für die Zukunft der jungen Generation?

Praktisch jedes Kind in Gaza dürfte in den vergangenen Jahren irgendeinen Verlust erlitten haben. Im besten Fall beginnt für diese Generation jetzt eine neue Zeit, sie betritt völliges Neuland. Die hohe Alphabetisierungsrate ist bemerkenswert, das macht mir Hoffnung. Wie ich gehört habe, haben die Supermärkte nach den vergangenen Waffenruhen schon am nächsten Tag wieder geöffnet. Das war nur möglich, weil es dort viele gut ausgebildete Menschen gibt. Bildung wird jetzt eine riesige Rolle spielen. Der Schaden gerade für die Kinder in Gaza ist beispiellos. Nach zwei Jahren Krieg müssen sie endlich wieder zur Schule gehen können.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fliessen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäss dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Wie soll das funktionieren? 95 Prozent der Schulen in Gaza sind in den vergangenen zwei Jahren komplett oder teilweise zerstört worden.

Wir möchten erreichen, dass alle Schulkinder vorübergehende Bildungsangebote besuchen können. Damit haben wir Erfahrung. Unser Fokus liegt nun darauf, temporäre Lernzentren einzurichten, Schulen wieder aufzubauen – auch wenn das lange dauern wird – und sicherzustellen, dass die Kinder den verpassten Unterricht nachholen können. Die Lernzentren geben den Kindern Halt und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Gerade angesichts der tiefen Traumata, die sie durchlebt haben, ist das besonders wichtig.

"Die Palästinenser sind bereit, ihr Land wieder aufzubauen – aber alleine werden sie das nicht schaffen."

James Elder

Die Aufgabe des Wiederaufbaus – mit all seinen Facetten – erscheint riesig. Ist das alles überhaupt zu leisten, wenn die Mittel für humanitäre Hilfe überall auf der Welt schrumpfen?

Die Palästinenser sind bereit, ihr Land wieder aufzubauen – aber alleine werden sie das nicht schaffen. Es besteht ein grosses Risiko, das von nichtdetonierten Kampfmitteln ausgeht. Wir müssen unsere Hilfen zur Trauma-Bewältigung massiv ausbauen. Das betrifft ja nicht nur Kinder, sondern auch deren Eltern. Regierungen und Grossspender müssen jetzt dringend die Hilfe bereitstellen, die schon so lange überfällig ist – und die israelische Regierung muss diese Hilfe ermöglichen und Organisationen Zugang verschaffen. Es ist möglich, wenn die Voraussetzungen stimmen. Die Welt muss sich aber bewusst machen: Diese Aufgabe wird nicht in zwölf Monaten bewältigen lassen.

Über den Gesprächspartner

  • James Elder hat Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert und in seinem Heimatland Australien als Journalist gearbeitet. Seit 2002 ist er für das UN-Kinderhilfswerk UNICEF tätig. Er ist Sprecher des UNICEF-Headquarter in Genf.