Ein solches Scheitern hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben: CDU-Chef Friedrich Merz erhält bei der Kanzlerwahl nicht genug Stimmen. Nun greift Artikel 63 des Grundgesetzes – mit möglichen Folgen für das ganze Land.
CDU-Chef
Was für den Mann aus dem Sauerland der bislang grösste Tag in seiner politischen Karriere werden sollte, begann mit einem Debakel. Es dürfte einen dunklen Schatten auf seine Kanzlerschaft werfen - auch wenn am Ende noch alles gut geht.
Frau und Töchter im Moment des Scheiterns auf der Tribüne
Seine Frau Charlotte, seine beiden Töchter Carola und Constanze und Ex-Kanzlerin
Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik in der Form ein Novum: Noch nie ist nach einer Bundestagswahl und erfolgreichen Koalitionsverhandlungen ein designierter Kanzler bei der Wahl im Bundestag durchgefallen. Merz zeigte bei der Verkündung des Ergebnisses kaum eine Regung: versteinerte Gesichtszüge, der Kiefer fest, der Blick geradeaus.
Merz kennt solche Momente. Nach dem Aufstieg Merkels schied er frustriert aus der Politik aus, weil es für ihn keine Karriereperspektive unter ihr gab. Sein Comeback direkt an die Parteispitze gelang erst im dritten Anlauf, nachdem er zwei Kampfkandidaturen verloren hatte. Er ist aber immer wieder aufgestanden. Und hat es jetzt nach fast ganz oben geschafft. Aber bisher eben nur fast.
Scholz bleibt geschäftsführend im Amt
Dabei sah am Montag noch alles so gut aus: Union und SPD hatten mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags das fünfte schwarz-rote Bündnis in der Geschichte der Bundesrepublik besiegelt und ihre letzten Personalfragen geklärt. Mit der Kanzlerwahl wollten die beiden Fraktionen nun die letzte Hürde auf dem Weg zu einer funktionsfähigen Regierung ein halbes Jahr nach dem Aus der Ampel-Koalition nehmen.
Das ging dann erstmal schief. Die geplante Ernennung von Merz durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wurde auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Die Vereidigung des Kabinetts auch. Genau wie die bereits geplanten Amtsübergaben in den Bundesministerien. Der geschäftsführende Kanzler
Rätselraten über die Abweichler
Wer für das Scheitern von Merz im ersten Anlauf verantwortlich ist, ist noch unklar. Union und SPD hatten vor der Sitzung angegeben, dass ihre Abgeordneten komplett anwesend seien, also 328. Das bedeutet, dass mindestens 18 nicht für Merz gestimmt haben, vielleicht auch mehr. Theoretisch könnten ja auch Oppositionspolitiker ihre Stimme für Merz abgegeben haben.
An der SPD habe es nicht gelegen, versicherten die Genossen sofort. SPD-Fraktionschef
Doch sicher kann auch Klingbeil letztlich nicht sein, denn die Wahl war geheim - es lässt sich also nicht überprüfen, ob nicht doch ein jemand anders abgestimmt hat, als er oder sie angekündigt hat. Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern,
Opposition attackiert – Grüne und Linke warnen
Aus der Opposition frohlockte vor allem die AfD und forderte sofort eine Neuwahl des Bundestags. Grünen-Chefin Franziska Brantner dagegen sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Wir wünschen uns für Europa und Deutschland eine handlungsfähige Regierung." Merz und Klingbeil müssten nun beweisen, dass sie die Mehrheit ihrer Fraktionen jetzt, aber auch für vier Jahre sichern könnten. Thüringens früherer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) machte ebenfalls Merz und Klingbeil für die Lage verantwortlich. "Ich bin krachsauer auf die Koalition", sagte er der dpa.
Die nächsten Schritte
Nach stundenlangem Ringen verständigten sich Union und SPD nach dem Scheitern mit Grünen und Linken darauf, dass der zweite Wahlgang noch heute stattfinden soll. Die beiden Oppositionsfraktionen mussten eingebunden werden, um eine Frist für die Abstimmung zu verkürzen.
"Ganz Europa, vielleicht sogar die ganze Welt, schaut auf diesen zweiten Wahlgang", sagte CDU/CSU-Fraktionschef Jens Spahn (CDU) in Berlin. "Ich appelliere an alle, sich dieser besonderen Verantwortung bewusst zu sein."
Der SPD-Chef und designierte Vizekanzler Lars Klingbeil sagte, er rechne nun im zweiten Versuch mit einer Mehrheit für Friedrich Merz. "Ich gehe davon aus, dass jetzt im zweiten Wahlgang die erforderliche Mehrheit da ist, damit Friedrich Merz der nächste Bundeskanzler unseres Landes ist."
CSU-Chef Markus Söder mahnte die Abgeordneten von Union und SPD, jetzt sei der falsche Zeitpunkt für Spielchen, Denkzettel oder die Begleichung alter Rechnungen. "Wir brauchen Stabilität wie nie und konnten es heute nicht erzielen", sagte er in München. Es gehe bei der Wahl des Kanzlers auch nicht nur um eine Person, sondern um eine ganze Regierung.
Reicht Merz' Glaubwürdigkeits-Kredit?
Doch Merz hatte auch in den Unions-Reihen einen teils heftig zu spürenden Frust ausgelöst, als er nur Tage nach der Bundestagswahl eine Aufweichung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben anstiess. Und das, obwohl seine Partei im Bundestagswahlkampf den Eindruck erweckt hatte, fest zur Schuldenbremse zu stehen.
Seitdem sinken Merz' Beliebtheitswerte in Umfragen, Wähler fühlen sich betrogen - und auch in der Fraktion zeigten sich manche angefasst. Der 69-Jährige selbst räumte öffentlich ein: "Ich weiss, dass ich jetzt einen sehr hohen Kredit in Anspruch genommen habe, auch was meine persönliche Glaubwürdigkeit betrifft." Diesen Kredit wollte er als Kanzler zurückzahlen - wenn man ihn lässt.
Berlin statt Paris und Warschau?
Die Erwartungen an eine neue Regierung sind hoch. Im Inland hoffen die Menschen vor allem auf die Ankurbelung der seit langem schwächelnden Wirtschaft. Dafür muss schnell ein Haushalt beschlossen werden.
Im Ausland warten die europäischen Verbündeten seit dem radikalen Kurswechsel in der US-Aussenpolitik unter Präsident Donald Trump darauf, dass Deutschland als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungsreichstes EU-Land wieder voll handlungsfähig wird – gerade mit Blick auf die Bedrohung aus Russland und die Konkurrenz aus China.
Am Mittwoch will Merz eigentlich zu seiner ersten Kanzlerreise nach Paris und Warschau aufbrechen. Ob daraus etwas wird, ist am Nachmittag noch offen. (dpa/bearbeitet von amb/skr)