Seit mehr als drei Jahren läuft der russische Wirtschaftsmotor im Zeichen des Angriffskriegs auf die Ukraine. Bislang profitierte die Wirtschaft vom Krieg, doch das Stottern im Motor wird immer heftiger. Wie lange hält das Land noch durch und was kommt danach?
Zahlreiche Sanktionen, Milliarden Rubel teures, zerstörtes Kriegsmaterial, Tausende tote oder verletzte Arbeiter und dennoch brummt die russische Wirtschaft. Das Paradox hat viel mit den Rohstoffvorkommen des Landes zu tun. Im russischen Boden schlummern tonnenweise Öl, Gas und Kohle - die trotz der Blockade des Westens fast ungehindert auf den Weltmarkt geworfen werden. Aber es ist ein Spiel auf Zeit.
Das hat wohl auch
Herr Kluge, wie abhängig ist Russland von seinen Ressourcen?
Janis Kluge: Russlands Wirtschaft ist sehr abhängig von dem Export von Rohstoffen. Das sind in allererster Linie Öl und Ölprodukte, aber auch Gas und andere Energieträger wie Kohle. Insgesamt sind deutlich über die Hälfte der russischen Exporte Energieträger. Wenn man Erze und Metalle noch hinzufügt, dann macht das weit über zwei Drittel der Exporte aus.
Trotz Sanktionen und weltweit grosser Konkurrenz ist Russlands Export von fossilen Energieträgern weitestgehend stabil geblieben. Wie kommt das?
Der weltweite Ölmarkt ist schon kompetitiv. Russland ist beispielsweise ein Konkurrent von Saudi-Arabien. Allerdings haben die nicht-westlichen Ölproduzenten in den letzten Jahren gut zusammengearbeitet. Russland ist Teil des sogenannten OPEC-Plus-Kartells. Innerhalb dieses erweiterten Kartells gab es immer wieder Absprachen über Fördermengen. Das heisst, die Konkurrenz wird dadurch eingeschränkt. Für Saudi-Arabien ist die Verbindung zu Russland auch wertvoll.
"Russland wird auch eines der letzten Länder sein, das fossile Energie exportiert."
Inwiefern?
Es sind keine Verbündete in dem Sinne, aber Saudi-Arabien profitiert von seiner Stellung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, wie man an den Verhandlungen zum Ukraine-Krieg in ihrem Land gesehen hat. Es geht da um mehr als nur Ölexporte – deshalb fällt man Russland nicht in den Rücken. Ob das immer so bleiben wird, ist eine andere Frage.
Die Welt bewegt sich immer mehr in Richtung erneuerbare Energien. Was macht das mit einem Land, dass so abhängig von seinen fossilen Ressourcen wie Russland ist?
Man muss berücksichtigen, dass Russland eines der Länder mit den niedrigsten Förderkosten ist. Das heisst, es wird auch eines der letzten Länder sein, das fossile Energie exportiert. Deshalb ist das auch kein Thema für die 2020er- und 2030er-Jahre. Es wird auch nach 2050 noch Nachfrage nach Öl und Gas geben.
Aber, es wird für Russland immer schwerer Ölquellen in schwer erreichbaren Gegenenden zu erschliessen, weil es dafür westliche Technik braucht. Das Land verliert also konstant die Fähigkeit Öl zu fördern und deshalb wird die Fördermenge in den nächsten zehn Jahren deutlich abnehmen.
Die EU hat sich Ende Juli auf das 18. Sanktionspaket gegen Russland geeinigt. Warum haben die Sanktionen so wenig Wirkung auf Russland?
Das Hauptproblem ist, dass die Sanktionen Russlands Ölexporte nicht wirklich ins Visier nehmen. Das ist auch beabsichtigt. Westliche Staaten befürchten, wenn sie russisches Öl wirklich effektiv sanktionieren, dass es dann zu Engpässen auf dem Ölmarkt kommt. Die Ölpreise reagieren sehr empfindlich auf Angebotsveränderungen und Russland hat eine dominante Rolle auf dem Ölmarkt.
"Russland exportiert heute noch genauso viel Öl wie zu Beginn des Krieges, bloss in andere Länder."
Was würde sich genau ändern?
Wenn man jetzt mit Sanktionen auch nur ein Drittel der russischen Ölexporte vom Weltmarkt nehmen würde, würde das zu einem Anstieg der Ölpreise, von 20 vielleicht sogar 30 Prozent führen. Russland exportiert heute noch genauso viel Öl wie zu Beginn des Krieges, bloss in andere Länder.
Wie sieht es mit russischem Gas aus?
Das ist ein Sonderfall. Hier gibt es fast keine Sanktionen, weil die EU die eigene Versorgung sichern wollte. Es gibt zwar Flüssiggas, aber die Versorgung über Pipelines war sehr wichtig. Hier hat Russland selbst die Zufuhr abgedreht. Deshalb exportiert Russland heute sehr wenig Gas – auch in die EU. Es bleibt heute überwiegend in Russlands Boden, weil es einfach keinen Markt für das Gas aus Westsibirien gibt.
Also sind die Sanktionen Augenwischerei?
Die Sanktionen haben Russland schon getroffen und zu deutlichen Einnahmeausfällen geführt. Aber weil das Öl so wichtig ist und es ein Stück weit ausgeklammert wurde bei den Sanktionen, ist der Effekt in der Summe aushaltbar gewesen.
Kommen die bisherigen Sanktionen auch in der russischen Bevölkerung an?
Bei der russischen Bevölkerung muss man stark unterscheiden, welche Schichten man betrachtet. Es gibt in Russland, vor allem in Städten, die obere Mittelschicht, die in der Vergangenheit viele westliche Produkte konsumiert hat. Für diese Gruppe gab es harte Einschnitte. Auch für Menschen, die in westlichen Unternehmen gearbeitet haben.
Für die durchschnittliche russische Familie, für die der Konsum westlicher Produkte nicht so eine grosse Rolle spielt, ist der Einfluss tatsächlich begrenzt geblieben. Es war auch nicht das primäre Ziel der Sanktionen, die russische Bevölkerung zu treffen. Man wollte den Staat und den Militärapparat treffen.
US-Präsident Donald Trump bringt jetzt auch Zölle und Sanktionen gegen Abnehmerländer russischer Produkte wie Indien ins Spiel. Können diese mehr bewirken?
Man muss unterscheiden zwischen Sekundärsanktionen und -zöllen. Das wird oft durcheinandergeworfen. Sanktionen richten sich gezielt gegen Unternehmen, Raffinerien, Importeure von russischem Öl. Die könnten sehr zielgerichtet diese Akteure dazu bringen, kein russisches Öl mehr zu importieren. Das funktioniert ganz gut.
Und Trumps Sekundärzölle?
Die sind der Versuch, praktisch ein ganzes Land unter Druck zu setzen. Russland exportiert heute im Wesentlichen in drei Staaten Öl: China, Indien und in gewissem Masse in die Türkei. Eigentlich macht es nur bei Indien und China einen Unterschied, wenn Trump Druck ausüben würde. Bei Indien ist das in besonderem Masse möglich, weil das Land für die Amerikaner selbst wirtschaftlich nicht so wichtig ist, im Gegensatz zu China. Aber damit die Zölle ihre Wirkung entfalten müsste Indien tatsächlich aufhören Öl zu importieren, oder Russland keinen Abnehmer finden, der das Land ersetzen könnte. Die Erfolgsaussichten dafür sind jedoch gering.
Zu Beginn des Jahres wurde von Wirtschaftsexperten prognostiziert, dass dieses Jahr ein schweres für die russische Wirtschaft wird. Ist dem so?
Es ist tatsächlich das wirtschaftlich schwierigste Jahr seit Anfang der Vollinvasion. Russland hatte in den vergangenen Jahren einen Boom erlebt mit Wachstumsraten von vier Prozent und mehr. In diesem Jahr sieht es eher nach Stagnation aus und es könnte auch in eine Rezession kippen. Der Grund dafür ist, dass Russlands Wirtschaft überhitzt ist.
Was bedeutet das?
Es gibt einen Arbeitskräftemangel, weil sehr viele Männer vor allem für die Rüstungsindustrie und die Armee mobilisiert wurden. Deshalb steigen die Löhne für Arbeiter, was für sie sehr gut ist, aber die Inflation nach oben treibt. In den letzten zwei Jahren hat die Zentralbank deshalb stark mit extrem hohen Zinsen gegengesteuert. Das wiederum treibt die Wirtschaft möglicherweise in die Rezession. Zusätzlich mussten dieses Jahr die Steuern erhöht werden, was ebenfalls die Wirtschaft belastet.
"Für Putin und die Stabilität seines Regimes ist es deshalb wichtig, dass die Verlierer nicht überhandnehmen."
Könnten Steuererhöhungen und eine schwächelnde Wirtschaft die Zustimmungswerte für Putins Krieg in der Ukraine senken?
Aktuell ist die Situation für viele Russinnen und Russen noch relativ gut, weil es eben diesen Arbeitskräftemangel gibt und dadurch die Gehälter stark gestiegen sind. Aber Menschen, die verschuldet sind, leiden besonders unter den hohen Zinsen. Es gibt also Gewinner und Verlierer. Für Putin und die Stabilität seines Regimes ist es deshalb wichtig, dass die Verlierer nicht überhandnehmen.
Immer wieder kommt es zu Unfällen, bei denen hochrangige Wirtschaftsvertreter zu Tode kommen oder sie werden ihres Postens enthoben. Haben die Oligarchen in Putins Russland ihre Macht verloren?
Der Einfluss der Wirtschaftseliten, eigentlich kann man sie gar nicht Oligarchen nennen, weil sie dafür nicht mächtig genug sind, ist sehr gering. Das heisst, die versuchen eigentlich nicht auf Putin einzuwirken, was den Krieg betrifft, weil es für sie gefährlich werden könnte.
Sollte es jetzt zu einem Frieden in der Ukraine kommen, wie kann dann eine wirtschaftliche Zukunft mit Russland aussehen?
Empfehlungen der Redaktion
Wenn die Sanktionen aufgehoben würden, hätte das in manchen Bereichen schnell Auswirkungen, in anderen wird es nie mehr wie zuvor. Was sich schnell ändern kann, sind Handelsströme beim Öl. Also an dem Tag, an dem das EU-Öl-Importembargo fällt, würden schon wieder Schiffe mit russischem Öl in der EU anlegen. Allerdings halte ich das Aufheben der Sanktionen für sehr unwahrscheinlich. Dafür müsste sich Russland komplett aus der Ukraine zurückziehen und das sehe ich nicht.
Und wo sind die Schäden irreparabel?
Was nicht mehr wiederkommen wird, sind die tiefen Verbindungen von Lieferketten und vor allem die Investitionen der westlichen Unternehmen in Russland. Denn auch wenn es jetzt zu irgendeiner Art von Deal kommen sollte, bleibt Russland als Investitionsstandort toxisch. Der grundsätzliche Konflikt zwischen Russland und dem Westen, der auch über die Ukraine hinausgeht, verschwindet nicht einfach. Eine wichtige Rolle spielt auch, dass Russland in den letzten Jahren westliche Investoren enteignet hat. Das schreckt sehr nachhaltig ab.
Über den Gesprächspartner
- Dr. Janis Kluge ist stellvertretender Forschungsgruppenleiter für Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin. Seine Schwerpunkte sind Russland und China, russische Innenpolitik, wirtschaftliche Eliten, Sanktionen und ihre Wirkung sowie die wirtschaftliche Entwicklung Russlands.