Vor 20 Jahren ereignete sich das wohl verrückteste Finale der Champions-League-Geschichte. Der FC Liverpool lag gegen die AC Mailand mit 0:3 zurück, drehte das Spiel und gewann im Elfmeterschiessen. Didi Hamann stand damals auf dem Feld und blickt für uns zurück.

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Didi Hamann
Didi Hamann gewann 2005 mit Liverpool den Henkelpott. © IMAGO/Sven Simon/Frank Hoermann

Die Favoritenrolle war klar verteilt. Die AC Mailand reiste im Jahre 2005 als Star-Truppe zum Champions-League-Finale nach Istanbul. Die Mannschaft war gespickt mit Weltklasse-Spielern wie Paolo Maldini, Andrea Pirlo, Clarence Seedorf, Kaká und Andrij Schewtschenko. Der FC Liverpool galt als Underdog. Didi Hamann, der heute als Sky-Experte bekannt ist, gehörte damals dem Kader der Engländer an.

"Zu der Zeit war Mailand die weltbeste Mannschaft", erzählt Hamann im Gespräch mit unserer Redaktion. Früh zeigte sich dies auf dem Platz. Gerade einmal 52 Sekunden waren gespielt, als Maldini den Ball nach einem Freistoss per Volleyschuss ins Tor knallte. Kurz vor der Halbzeit legten die Italiener nach. Hernán Crespo traf in der 39. Minute zum 2:0, fünf Minuten später zum 3:0. Beide Male wurde Liverpool ausgekontert. Das Spiel war praktisch entschieden.

Hamann befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Ersatzbank und musste das Drama tatenlos mitansehen. "Ich glaube nicht, dass Mailand in der 1. Halbzeit drei Tore besser war", sagt er rückblickend. "Wir hätten vor dem Gegentor zum 0:2 eigentlich einen Handelfmeter bekommen müssen, der uns nicht gegeben wurde."

Didi Hamann
Didi Hamann verwandelte seinen Strafstoss im Elfmeterschiessen. © imago images/Ulmer

Hamann dachte zur Halbzeit: "Wir haben die Chance verspielt"

Liverpool schien gebrochen zu sein. "Auf dem Weg zur Kabine dachte ich mir: Wir haben die Chance verspielt, Geschichte zu schreiben und zum fünften Mal den Pokal zu holen", erinnert sich Hamann an diesen Moment. Nur einer schien noch an ein Fussball-Wunder zu glauben: Trainer Rafael Benítez.

"Der Trainer war in der Halbzeit völlig ruhig", sagt Hamann. "Wenn man es nicht wüsste, hätte niemand geahnt, dass wir 0:3 hinten liegen. Er hat nur gesagt, dass wir schnell ein Tor schiessen müssen und dass wir auswechseln."

Hamann wurde für den angeschlagenen Rechtsverteidiger Steve Finnan ins Spiel gebracht. "Natürlich habe ich gehofft, dass sich das Spiel noch dreht. Aber daran geglaubt habe ich nicht wirklich", gibt er rückblickend zu. Es schien eher um Schadensbegrenzung zu gehen.

"Im Hinterkopf hatte man die Befürchtung, dass man sechs oder sieben Gegentore bekommen könnte", erzählt Hamann. "Aber dann habe ich mich warm gemacht und hörte unsere Fans singen – vermutlich mehr aus Verzweiflung als aus Überzeugung. Ich dachte mir: Wenn wir noch ein Tor schiessen, werden wir auch ein zweites machen. Und dann wird es noch einmal eng."

Eine taktische Umstellung brachte die Wende

Entscheidend für die Wende war eine taktische Umstellung. "Wir hatten hinten von Viererkette auf Dreierkette umgestellt. Ich bin in die Mitte gegangen, sodass wir mit Xabi Alonso (zuletzt Trainer von Bayer Leverkusen, Anm.d.Red.) und mir in der Mitte ein bisschen Spielkontrolle bekommen. Bis dahin konnten nämlich die Mailänder Andrea Pirlo und Kaká ziemlich frei aufspielen", erklärt Hamann.

"Ausserdem konnte durch meine Einwechslung Steven Gerrard weiter nach vorne schieben, der unsere grösste Torgefahr war. Er hat dann auch das erste Tor gemacht." Nach einem Freistoss von John Arne Riise stieg Gerrard in der 60. Minute hoch und köpfte den Ball ins Netz. "Und was dann passierte, haben wir alle nicht für möglich gehalten", sagt Hamann.

Nur zwei Minuten später der nächste Treffer. Hamann war unmittelbar daran beteiligt. Der Deutsche legte den Ball für Vladimir Smicer vor, der von seinen Gegenspielern nicht attackiert wurde. Also zog der Tscheche aus 20 Metern ab. Erneut zappelte der Ball im Netz - 2:3.

Die eigentlich souveränen Mailänder waren völlig von der Rolle. Drei weitere Minuten später verursachte Gennaro Gattuso einen Foulelfmeter. Torwart Dida konnte den Schuss von Alonso zunächst zwar parieren, doch im Nachschuss traf Alonso doch zum 3:3. Sechs Minuten hatten genügt, um den Drei-Tore-Rückstand zu egalisieren.

Wie so etwas möglich ist? "Mit dem ersten Tor hat sich alles verändert", erklärt Hamann. "Die Italiener fingen das Überlegen an. Das Stadion war wieder da. Ab und zu passieren im Fussball Dinge, die man nicht erklären kann. Und das war so ein Abend."

Jerzy Dudek
Torwart Jerzy Dudek hält den entscheidenden Elfmeter. © imago/Ulmer

Hamann war der erste Elfmeterschütze für Liverpool

Nach der spektakulären Aufholjagd ebbte das Spiel etwas ab, sodass die Entscheidung erst im Elfmeterschiessen erfolgte. Der Brasilianer Serginho war auf Seiten von Mailand zuerst an der Reihe – und knallte den Schuss in die Wolken. Nun war der erste Schütze von Liverpool dran: Didi Hamann.

Mit welchem Gefühl schritt er an den Elfmeterpunkt? "Mit Überzeugung", sagt er. Zwar hatte die Mannschaft direkt vor dem Finale kein Elfmeterschiessen trainiert. Doch Hamann wusste, dass er normalerweise dazu in der Lage war, vom Punkt aus relativ zuverlässig zu treffen – sofern die Nerven mitspielen.

"Man muss das ganze Drumherum ausblenden und überzeugt sein, ausserdem im Kopf haben, was man machen will", sagt Hamann. "Ich wusste, dass ich nach links schiessen werde - ausser der Torwart bewegt sich früh, was er nicht gemacht hat. Also habe ich mit Überzeugung geschossen. In England sagt man: If you miss, miss for the right reason! Also verschiess den Elfmeter nicht, weil du unsicher bist. Ich ging an den Punkt, führte aus und hoffte, dass das Netz zappelt – was Gott sei Dank passiert ist."

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Der zweite Elfmeterschütze von Mailand war Pirlo – und der verschoss ebenfalls. Torwart Jerzy Dudek hatte die richtige Ecke erahnt und fischte den Ball heraus. Für Liverpool hingegen erwiesen sich speziell die eingewechselten Spieler als Glücksfall. "Das Verrückte war, dass alle verwandelten Elfmeter von Einwechselspielern geschossen wurden (Hamann, Djibril Cissé, Vladimir Smicer, Anm.d.Red.). Der einzige Startelfspieler (John Arne Riise) hatte verschossen", erzählt Hamann.

Der Mailänder Andriy Shevchenko, der damals als der beste Stürmer der Welt galt, war als fünfter Schütze an der Reihe, schoss den Ball allerdings unplatziert in die Mitte. Dudek parierte erneut – und löste pure Euphorie aus. Das Finale war gewonnen.

Hamann denkt gerne an die Stunden und Tage danach zurück. "Wir haben nach dem Spiel ein bisschen gefeiert und sind am nächsten Tag zurück nach Liverpool geflogen. Dort war gefühlt ganz Liverpool oder ganz Nordengland auf den Beinen. Das waren tolle Szenen. Ich glaube, es waren eine Million Menschen auf den Strassen. Das waren schöne und unvergessliche Tage."

Das Finale von damals ging als das "Wunder von Istanbul" in die Fussballgeschichte ein. "Ich hatte einige verrückte Spiele in meiner Karriere", sagt Hamann. "Aber das war wohl das verrückteste und aufgrund des Spielausgangs auch das schönste."

Über den Gesprächspartner

  • Dietmar "Didi Hamann" (Jahrgang 1973) spielte von 1993 bis 1998 für den FC Bayern München, wechselte daraufhin nach England und war für Newcastle United, den FC Liverpool, Manchester City und Milton Keynes Dons aktiv. Er gewann unter anderem die Champions League und den Uefa-Pokal. Im Jahre 2011 beendete er seine Laufbahn. Heute ist er als Experte bei Sky tätig.