In der Garage ihres verstorbenen Vaters macht seine Tochter einen entsetzlichen Fund: Auftakt für ein neues "Tatort"-Team, das sich im Keller des Frankfurter Kommissariats um Cold Cases kümmert. Die stille Maryam Azadi und ihr zwangsversetzter Kollege Hamza Kulina geben ein erstklassiges Paar ab. Aber sie tragen selbst ein paar Altlasten mit sich. "Dunkelheit" ist ein vielversprechender Anfang für einen neuen Frankfurter "Tatort", der sich jünger, moderner und internationaler zeigen will.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der Frankfurter "Tatort" hat ein neues Team. Es arbeitet in einem Keller. Es macht wenig Witze. Es gibt wenig Action und noch weniger Tageslicht. Dafür aber Unmengen von Akten. Man könnte sagen: Das neue Team besteht aus Maryam Azadi (Melika Foroutan), Leiterin der Abteilung für Altfälle, Hauptkommissar Hamza Kulina (Edin Hasanovic) und sehr vielen Akten.

Das neue Team ist grossartig. Manche Krimifans werden sagen: Das neue Team ist langweilig. Das Praktische aber an "Dunkelheit" ist: Man muss sich den ersten Fall keine halbe Stunde lang ansehen, und schon weiss man, zu welcher Gruppe man gehört. In den ersten Minuten steckt alles, was den neuen Frankfurter "Tatort" ausmachen wird. Zum Beispiel, wie sparsam "Dunkelheit" erzählt, aber wie viel der Film damit bewirkt.

Los geht es mit einer Frau, die die Garage ihres verstorbenen Vaters ausräumen muss. Traurig sichtet Michaela Zeller (Anna Drexler) altes Spielzeug, füllt Mülltüten, rückt Kartons zur Seite. Verwundert entdeckt sie ein grosses, schwarzes Plastikfass. So eines, in dem man Giftstoffe aufbewahrt. Natürlich wird sie es öffnen, und natürlich ist man als Krimizuschauerin überhaupt nicht verwundert, als sie panisch zu schreien anfängt. Kurz darauf ist alles voller Polizei.

Wir werden den Inhalt des Fasses nie zu Gesicht bekommen, aber wie schrecklich er ist, können wir uns gut vorstellen. Besonders, als eine Kriminaltechnikerin einen kleinen Nagel ausmisst. In der Hand hält sie einen Skizzenblock, auf dem ein Frauentorso mit mehreren roten Punkten eingezeichnet ist. Sie betrachtet den Nagel und markiert einen weiteren roten Punkt auf dem Unterleib.

Abteilung für Altfälle – das klingt nach Altpapier

Und dann ist da die Szene, in der wir Hauptkommissar Hamza Kulina kennenlernen. Die Kommissariatsleiterin Sandra Schatz (Judith Engel) begrüsst ihn in ihrem Büro. Betont, wie ausserordentlich es sie freue, dass er zugestimmt habe. Sie lächelt und redet und lächelt und redet, und dann fragt Kulina: "Wie lang muss ich da bleiben?" Keine Minute dauert die Szene, aber wir wissen sofort einiges über diesen Mann. Er hat Mist gebaut, er ist immun gegenüber falschen Schmeicheleien und er soll an einen Ort geschickt werden, wo niemand hin will.

In den Keller. Dort sitzt die Abteilung, um die es im Frankfurter "Tatort" künftig gehen wird: Die Abteilung für Altfälle, was nach Altpapier klingt und deutlich uncooler ist als das aus US-Thrillern oder True-Crime-Podcasts bekannte Schlagwort 'Cold Case'.

"Dunkelheit" betont praktisch jede Minute, dass sich die Autoren Senad Halilbašić und Erol Yeşilkaya sowie Autor und Regisseur Stefan Schaller wenig darum scheren, die Aufklärung alter Fälle so cool wie möglich zu gestalten. Jedenfalls, wenn man mit "cool" dramatisch, aufgeregt, actionreich und voyeuristisch meint.

Ein packendes Keller-Kammerspiel

Melika Foroutan als Maryam Azadi und Edin Hasanovic als Hamza Kulina sind anders und viel cooler. Zwei erstklassige, seit langem miteinander vertraute (und befreundete) Darsteller hat sich der Hessische Rundfunk ausgesucht. Die beiden kann man in einen Raum voller Aktenschränke stecken und sich darauf verlassen, dass ein packendes Keller-Kammerspiel dabei herauskommt.

Maryam Azadi ist die Aktenflüsterin – eine, für die in jedem Ordner nicht nur ein Opfer und sein Rätsel stecken, sondern vor allem auch der Schmerz und die Ungewissheit der Hinterbliebenen. Azadi scheint diesen Schmerz mitzufühlen – er ist ihr Antrieb, Quelle für ihre scheinbar endlose Geduld beim Aktenblättern.

Hamza Kulina ist der Kommissar der Strasse, einer, der zupackt, losgeht, Fragen stellt. Aber auch zuhören kann. Maryam Azadi konzentriert sich auf die Akten, Hamza Kulina konzentriert sich auf Azadi. Er hat kaum seine Umzugskiste ausgepackt, da ruft schon der erste gemeinsame Fall. Und es dauert nicht lang, bis Kulina merkt, wie viel er von seiner neuen Kollegin lernen kann.

Es ist bezeichnend für das neue Team, dass hier nicht auf komische Gegensätze eines ungleichen Paares gesetzt wird, nach dem Motto "Haudegen vs. Schreibtischfrau". Hamza Kulina bringt emotionalen Ballast mit in den Keller, der ihn für den neuen Job prädestiniert. Er weiss das nur noch nicht.

Beide Ermittler schleppen ganz persönliche 'Cold Cases' mit sich herum. Dass beide Ermittler ausserdem nicht-deutsche Wurzeln haben, macht ihre Figuren noch interessanter, aber nicht exotisch – es macht den "Tatort" nur internationaler und spiegelt die Realität einer deutschen Grossstadt wie Frankfurt.

Die Hinterbliebenen sind der eigentliche Fall

Der Fall um die Leichenteile im Plastikfass ist nach 20 Minuten gelöst: Mit Ruhe und Beobachtungsgabe hat Maryam Azadi die Handschrift des "Main-Rippers" erkannt, wie die Presse einen Serienmörder nannte, der vor 20 Jahren mehrere Frauen umbrachte. (Die Autoren liessen sich übrigens von dem wahren Frankfurter Fall um den 2014 verstorbenen Manfred Seel inspirieren, der für Mord und die Verstümmelung von mehreren Menschen verantwortlich gemacht wird.)

Für Leiterin Sandra Schatz ist der Fall damit nicht nur gelöst, sondern erledigt. Kollege Kulina ist beeindruckt, aber auch ein bisschen enttäuscht: Der Täter ist inzwischen selbst schon tot, man kann also niemanden festnehmen und zur Rechenschaft ziehen – und das ist es doch eigentlich, was Polizeiarbeit so befriedigend macht?

Aber für Maryam Azadi geht die eigentliche Arbeit jetzt erst los – und Hamza Kulina bekommt einen Schnellkurs in empathischer Ermittlungstätigkeit: Die Angehörigen der Opfer will Azadi unbedingt noch vor der bevorstehenden Pressekonferenz informieren. Und zwar alle Angehörigen aller Ermordeten – sie ist überzeugt, dass es noch mehr davon gibt.

Drei Tage lang wälzen die beiden Ermittler Akten. Und entdecken nicht nur weitere Opfer, sondern auch beunruhigende Details, die darauf schliessen lassen, dass der Fall um den Main-Ripper noch lange nicht gelöst ist.

Ein Mörder, zu viele Opfer

"Dunkelheit" ist nicht perfekt. Das Aktenwälzen spannend zu gestalten, gelingt nicht durchgehend. Der Film hat Längen. Auch der Versuch, durch Rückblenden in die Zeit, in der die behandelten Verbrechen stattfanden, mehr Dynamik in die Handlung zu bringen, wird überstrapaziert. Viel bewegender sind die Begegnungen mit den von der Vergangenheit gezeichneten Hinterbliebenen. Verschenkt wirkt auch die Gelegenheit, mehr davon zu zeigen, was die Enthüllung mit Michaela Zeller macht – wie geht man damit um, dass der liebe Papa ein grausamer Frauenmörder war?

Und nicht zuletzt ist da das makabre Problem der vielen Toten: Weil es in "Dunkelheit" nicht um den Serientäter geht, sondern um seine Opfer, fliegen dem Fernsehpublikum mehr Namen um die Ohren, als man sich merken und auseinanderhalten kann – da können die Frauen noch so ordentlich auf Azadis Pinnwand präsentiert werden.

Tod nach Drehschluss

Dieser sorgfältig besetzte "Tatort" ist immer dann am stärksten, wenn er sich seiner Kammerspielatmosphäre besinnt und sich auf seine Darsteller verlässt. Darauf, dass sich auf engstem Raum, mit Gesichtern, Gesprächen und Gesten eine emotionale Intensität erschaffen lässt, die so packend sein kann wie eine herkömmliche Verbrecherjagd.

Empfehlungen der Redaktion

Und das betrifft nicht nur die Hauptdarsteller. In einer winzigen Szene etwa ist der Theaterschauspieler Hans Diehl (Vater von August Diehl) als inzwischen dementer Vater eines Mordopfers zu sehen. Eine Szene, die noch anrührender ist, wenn man weiss, dass Hans Diehl drei Tage nach dem Dreh verstarb.

Es wird spannend werden zu erleben, wie das ungewöhnliche Frankfurter "Tatort"-Konzept sich bewährt. Bereits am 30. November läuft der zweite Fall. Auf "Dunkelheit" folgt "Licht".