Sie will nicht mehr. Sie kann nicht mehr. Sie hält das alles nicht mehr aus. Darum regt sich Anja Rützel in dieser Kolumne über all das auf, was gerade wieder schiefläuft in der Welt. Heute: Papaplatte macht moralischen Kassensturz.

Anja Rützel
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Anja Rützel dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Es gibt diese plötzlichen Verknalltheiten, die nur im Internet passieren können. Kein anbandelnder Smalltalk, keine Berührungen, keine Gerüche, keine Unannehmlichkeiten wie Zahnspinat oder die bestürzende Entdeckung, dass der vermeintliche neue Supertyp den höchst fragwürdigen "Bachelor" Felix Stein "richtig, richtig nice" findet. Nein, es braucht nur einen Bildschirm, eine Stimme, ein bisschen zu viel "Realtalk" – und zack, man ist im Leben eines fremden Mannes angekommen, ohne dass der einem jemals die Tür geöffnet hat. Oder, da bin ich Ihnen ehrlich, wie die jungen Leute sagen: gleich mehrerer Männer, die altersmässig sämtlich meine Söhne sein könnten.

So ging es mir vergangene Woche mit Papaplatte, dem womöglich gerade erfolgreichsten deutschen Twitch-Streamer und YouTuber, seinem Kollegen und Freund Reeze und der begleitenden Entourage aus Kameramann und Allzweckorganisator.

Mit Papaplatte und Reeze auf "Edeltour"

Ich kannte die beiden Altersklassen-prominenten Internetmenschen bis dahin zwar vom Namen, hatte bewusst aber noch keine Videos von ihnen angesehen, weil ich es meistens rein zeitlich schon nicht schaffe, meine Aboliste jener YouTube-Kanäle abzuarbeiten, die meine Kerninteressen bedienen (sinnlos ausführliche Rezensionen japanischer Füllfederhalter, mitgefilmte Hundefrisörbesuche extrem verfilzter Riesenviecher, solche Dinge).

Vergangene Woche aber war ich kränklich, klickte mich matt durch vorgeschlagene Fremdkanäle und stolperte dabei über die sogenannte "Edeltour", bei der das bereits erwähnte Jungmannquartett eine gute Woche lang mit einem monströsen Campervan durch Grossbritannien und Irland fuhr und das ganze live streamte. Ich schaute kurz rein und blieb hängen, weil ich erstens Grossbritannien liebe und mich zweitens die Freundschaftsdynamik zwischen Papaplatte und Reeze rührte.

Also guckte ich die Edeltour aus dem vergangenen Jahr gleich hinterher, als der Roadtrip quer über den Balkan führte. Sie fuhren von Land zu Land und von Ort zu Ort, landeten auf verwegenen Campingplätzen, liessen sich von einem Dorffrisör fatale Frisuren schnitzen, bekamen Lachanfälle und Durchfall und redeten über nichts, was in einem Drehbuch stehen würde. Ich klickte ein Video, dann noch eins, und plötzlich war ich dabei. Nicht real als Beifahrerin, aber auf eine virtuelle Weise, mindestens auf irgendeinem ausklappbaren Notsitz.

Früher, als "mögen" noch einfacher war

Das Internet ist ein Parasitenzüchter für diese Art von Beziehung: Man heftet sich an das Leben eines Menschen, den man nie getroffen hat, und saugt sich voll mit seinem Alltag, als wäre er ein emotional appetitlich angerichtetes Gratisbuffet. Man meint plötzlich zu wissen, welcher britische Motorway-Snack diesen Menschen wohl am besten schmecken würde. Und man freut sich, wenn sich für ihn plötzlich eine glückliche Wendung ergibt, als hätte man unmittelbar selbst etwas davon.

Früher, vor YouTube und Social Media, konnte man Menschen, die einen gut unterhielten, nur aus sicherer Entfernung mögen. Sie liefen im Fernsehen und im Kino oder standen auf Bühnen und waren im Privatleben so weit von einem entfernt wie ein Himmelskörper, von dessen Existenz man zwar wusste, den man aber niemals betreten würde – Stars eben.

Natürlich war das schade: Ich konnte Louis de Funès nicht dabei beobachten, wie er sich beim Hotelfrühstück mit Ei bekleckert oder mit übertriebenem Ehrgeiz Minigolf spielt. Aber dafür konnte ich auch sehr lange unbehelligt über Louis de Funès lachen, weil niemand in einem 40-Minuten-Video belegreich erzählte, welch unangenehmer Sausack er vielleicht privat gewesen sein mochte. Damals konnte man sich seine Illusion über einen Menschen jahrzehntelang bewahren, ohne dass sie einem von einem schlecht gelaunten Zeitzeugen-Interview oder einem viralen Handyvideo im Handstreich zerstört wurde.

Diese Woche – ich steckte gerade mitten in einem Papaplatte-Vlog über eine Fahrt in einem gemieteten Cybertruck durch L.A., bei dem er und seine Kumpan-Entourage versuchten, ein Spiegelei auf der brüllend heissen Karosserie zu braten – lud ein ehemaliger Cutter von ihm ein Video auf YouTube hoch, also einer dieser für jeden Streamer unverzichtbaren Mitarbeiter, die teilweise stundenlange Twitch-Salbaderei für die Veröffentlichung auf YouTube in handlichere, dramaturgisch knackigere Happen schneiden.

Cut – ein Deal ist ein Deal!

Der Cutter erklärte, dass er ursprünglich einmal 50 Prozent der Gewinne eines YouTube-Kanals bekam, den er selbst erstellt hatte und auf dem er selbst zusammengeschnittene Videos hochlud, in denen Papaplatte auf Videos anderer Menschen reagierte. Ein fairer Deal, sollte man meinen, schliesslich schnitt er alle Videos, und für Papaplatte bedeutete der Kanal zusätzliche Einnahmen ohne weiteren Aufwand. Irgendwann kürzte er den Anteil des Cutters erst auf 25 Prozent, dann auf ein Festgehalt von 3.500 Euro plus 1,5 Prozent Gewinnbeteiligung.

Nicht etwa, weil der Kanal Verlust machte, sondern weil Papaplatte fand, dass ein Cutter für seine vermeintlich überschaubar anspruchsvolle Arbeit keine 10.000 Euro im Monat verdienen sollte. Was in meinen Augen extrem merkwürdig klingt aus dem Mund eines Mannes, der selbst – nach Schätzungen von Streaming-Kollegen – Monat für Monat mindestens einen sechsstelligen Betrag vor allem damit verdient, Computerspiele zu spielen und sich live über Videos anderer Leute aufzuregen.

Ich will hier gar nicht in die staubige Debatte einsteigen, wie viel man für Videoschnitt verlangen darf oder wie viel grosse YouTuber verdienen sollten. Das Problem ist ja viel einfacher: Wenn man eine Beteiligung abmacht, dann hält man sich daran. Ein Deal ist ein Deal, und das Machtungleichgewicht zwischen Internetstar und unbekanntem, lobbylosen Dienstleister auf diese Weise auszunutzen, ist nicht nur uncool, sondern schlicht unlauter.

Sympathiewandel im Zeitalter des Internets

Ich schaute Video nach Video an, in dem andere YouTuber auf ein Video reagierten, in dem Papaplatte auf das Video seines Cutters reagierte (und zwar ziemlich gleichgültig, millionärig und rundherum unangenehm, fand ich), und wurde immer zorniger. Nicht nur über den Vertragsbruch, sondern auch über die Geschwindigkeit, mit der sich meine Sympathie verflüchtigte.

Am Montag noch dachte ich, hier sei jemand, den ich gern in meine Freizeit hineinlasse. Am Dienstag schon überschlug ich gedanklich seine Einnahmen aus den diversen Kanälen und warf ihn gleichzeitig aus meinem Herzen und von meiner YouTube-Startseite. Ich fühlte mich betrogen, als hätte Papaplatte höchstpersönlich an meinem ureigensten Bankkonto herumgeknapst, um anschliessend unter tosendem Gelächter in einem Teslatruck davonzubrausen.

Vielleicht ist es diese doppelte Geschwindigkeitsfalle, die unser Verhältnis zu Internetmenschen so seltsam macht: Das Anbandeln braucht keinen Mut, und das Abwenden braucht keine Mühe. Wir können in Sekunden entscheiden, jemanden zu mögen, und ihn oder sie in Sekunden wieder loslassen. Es ist alles zu nah und gleichzeitig zu weit weg, um wirklich daran festhalten zu wollen.

Empfehlungen der Redaktion

Vielleicht ist das die wahre Pointe: nicht, dass Papaplatte sich wirtschaftlich und vor allem moralisch verzockt hat. Sondern dass ich mich schon wieder dabei erwischt habe, wie ich einem Fremden versehentlich beim Leben zugesehen habe, als wäre es auch ein bisschen meins.

Über die Autorin

  • Anja Rützel ist Kolumnistin, Trash-TV-Orakel, Podcasterin, schrieb Bücher über Tiere und Take That – und Wut ist ihr Motor. Sie glaubt an den Erkenntnisgewinn des Grolls.
  • In ihrer Kolumne "Rützel rantet" verarbeitet sie Alltagsabsurditäten, Kulturkatastrophen und gesellschaftliche Sollbruchstellen in therapeutische Tiraden. Denn manchmal hilft wirklich nur noch schreien – oder schreiben.