Eines der berühmtesten Objekte im Museum für Hamburgische Geschichte ist der angebliche Totenschädel von Klaus Störtebeker, datiert auf das Jahr 1400. Als Kaperfahrer und Hauptmann der sogenannten Vitalienbrüder soll er für Gewalt auf der Nord- und Ostsee gesorgt haben. Nachdem man ihn der Überlieferung zufolge in der Nähe von Helgoland aufgebracht hatte, endete sein Leben angeblich auf dem Hamburger Grasbrook. Doch wo hört die belegte Geschichte auf, und wo beginnt die Legende?

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Tatsächlich ist nur wenig über Klaus Störtebeker gesichert. Was wir wissen: Er übte im 14. Jahrhundert Gewalt auf hoher See aus und war einer der Hauptmänner der Vitalienbrüder. Sein Name "Störtebeker" soll an seine Trinkfestigkeit angelehnt sein und bedeutet in etwa "Becherstürzer". Zum ersten Mal fällt sein Name in einer Chronik von 1435 – also erst lange nach seinem Tod.

Tatsächlich gibt es sogar starke Zweifel daran, dass er wirklich Klaus hiess, sagt Historiker Gregor Rohmann: "Es gibt eine Quelle, die eine Gruppe von Menschen in Wismar um 1380 für vogelfrei erklärt, weil sie einen Nikolaus Störtebeker verprügelt haben." Spätere Chronisten und Geschichtsschreiber datierten Klaus' Geburt deswegen auf das Jahr 1360. "Wir gehen aber hier von einer Verwechslung aus", so Rohmann. Der Gewaltunternehmer Störtebeker, wie er den Piraten bezeichnet, habe eigentlich Johann geheissen und stamme aus Danzig.

Der Mythos der Piraterie

Egal ob Klaus oder Johann, mit unserer heutigen Vorstellung von Piraten – Papagei auf der Schulter und wertvolle Goldschätze an Bord – haben diese Personen wenig gemein. Statt Gold und Silber raubten sie Alltagswaren wie Felle, Tücher, gesalzene Heringe oder Bierfässer. Ob sie sich selbst als Piraten verstanden, ist unklar, denn ein staatliches Gewaltmonopol auf See existierte damals nicht. Dabei lohnt sich ein Blick in die Herrschaftsgebiete Nordeuropas.

Im mittelalterlichen Nordeuropa war die Hanse einer der wichtigsten politischen Akteure. Zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert prägte dieser Zusammenschluss vorwiegend norddeutscher Städte Wirtschaft, Handel und Politik im nördlichen Europa. Lübeck, Hamburg, Bremen und Danzig gehörten zu den bedeutendsten Mitgliedern.

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Kaperfahrer im Dienst der Herzöge von Mecklenburg

Im Gegensatz zum Mittelmeerraum gab es daher in Nordeuropa keinen grossen Akteur, der allgemeine Regeln für illegale Piraterie und legale Kaperfahrten definierte. "Jeder Seemann musste jederzeit damit rechnen, entweder selbst angegriffen zu werden oder andere anzugreifen," erklärt der Historiker.

In diesem Umfeld arbeiteten die Vitalienbrüder, wie Störtebekers Truppe genannt wird. Ihre Laufbahn begann Ende des 14. Jahrhunderts als Kaperfahrer im Dienst der Herzöge von Mecklenburg. Der Begriff "Vitalien" stammt wahrscheinlich von dem alten französischen Wort für Lebensmittel ("victualia"). Das Wort "Brüder" bezeichnete im niederdeutschen Sprachraum damals häufig Söldner oder Landsknechte.

Piraten mussten mehr können als kämpfen und segeln

Ob die Gruppe sich selbst "Vitalienbrüder" nannte, ist nicht bekannt. Die Bezeichnung findet sich überwiegend in den von der Hanse überlieferten Schriftquellen und könnte daher tendenziös sein.

Diese Einseitigkeit erschwert die heutige historische Analyse. Wurde das Schiff einer Hansestadt von den Vitalienbrüdern aufgebracht, bezeichneten die städtischen Chronisten sie als Verbrecher. Handelte es sich um ein feindliches Schiff, waren sie hingegen "normale" Kaufleute.

In jedem Fall war ihre Tätigkeit anspruchsvoll: Wer Felle, Fisch oder Bierfässer raubte, musste diese Güter auch gewinnbringend verkaufen können. Piraten der damaligen Zeit mussten also mehr können als kämpfen und segeln – sie brauchten auch kaufmännisches Geschick.

Piraten waren vernünftiger als gedacht

Die Raubzüge von Störtebeker und Co. haben wenig mit romantisierten Vorstellungen von Enterhaken, Kanonenfeuer und todesmutigen Wendemanövern gemein. Die meisten Handelsschiffe jener Zeit waren kaum bewaffnet. Das zeigen Funde wie die Bremer Kogge von 1380, das am besten erhaltene Wrack eines mittelalterlichen Handelsschiffes.

Oft näherten sich die Piraten und drohten zunächst mit Gewalt. Sahen die Kaufleute keine Chance zur Gegenwehr, übergaben sie die Waren. Bei einer Übermacht war Widerstand selten sinnvoll. Gleichzeitig achteten diese Piraten-Kaufleute sehr genau darauf, wen sie aufbrachten. Denn die Welt der Hanse war klein und die Stellung innerhalb dieses Ständebundes fragil.

Das Ende der Vitalienbrüder

Trotzdem waren die Vitalienbrüder rund um Klaus Störtebeker und Gödeke Michels kampferprobt. Zum einen, weil sie zunächst als Söldner für die Herzöge von Mecklenburg dienten. Zum anderen durch ihre Raubzüge nach dem Friedensschluss zwischen Dänemark, Schweden und Mecklenburg 1395, der sie überflüssig machte.

Daraufhin liessen sie sich auf der schwedischen Insel Gotland nieder und führten ihre Unternehmungen als eigenständige Piratentruppe fort. Doch schon wenige Jahre später wurden sie vom Deutschen Orden vertrieben, der 1389 die Insel einnahm. "Ob Störtebeker auch auf dieser Insel lebte, ist heute nicht nachweisbar", sagt Rohmann.

Eine Hinrichtung und der kopflose Störtebeker

Das am häufigsten überlieferte Datum für Störtebekers Hinrichtung ist der 20. Oktober 1400 in Hamburg. Nach einer Seeschlacht in der Nähe von Helgoland soll er gefangen genommen worden sein. Anschliessend wurde er – so die Legende – zusammen mit seiner Mannschaft auf dem Grasbrook (dem heutigen Standort der Hafencity) geköpft.

Einer berühmten Erzählung zufolge bot er dem Henker einen Deal an: Alle Matrosen, an denen er kopflos vorbeischritt, sollten verschont werden. Bei seinem elften Gefolgsmann angekommen, habe man ihm jedoch ein Bein gestellt. Medizinisch ist eine solche Geschichte unmöglich – sie gehört klar ins Reich der Mythen.

Schädel zur Mahnung

1878 wurde bei Bauarbeiten in der Hamburger Speicherstadt ein Schädel entdeckt. Dass dieser aus der Zeit um 1400 stammt und mutmasslich einem Piraten gehört hat, ist wahrscheinlich. Im Schädel steckte ein Nagel, wie er verwendet wurde, um die Köpfe von Hingerichteten als abschreckende Warnung an Spiessen zu befestigen.

Seither galt dieser Schädel als Störtebekers Schädel. Auch das ist eine falsche Zuschreibung, wie Rohmann herausgefunden hat: "Ich gehe nicht davon aus, dass Störtebeker 1400 hingerichtet wurde. Es gibt Quellen, dass er noch bis mindestens 1413 gelebt und in Danzig als Kapitän und Gewaltunternehmer gearbeitet hat."

Fest steht: Von den Vitalienbrüdern hört man im Jahr 1466 zum letzten Mal. Danach verliert sich die Spur dieser einst gefürchteten Seefahrer - und die Geschichte der Mythen und Zuschreibungen rund um Klaus Störtebeker beginnt.

Über den Gesprächspartner

  • Gregor Rohmann ist Professor für Regionale Kulturgeschichte Mecklenburgs an der Universität Rostock. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die Geschichte der Hanse und die Erforschung von Gewalt auf See im ausgehenden Mittelalter.

Verwendete Quellen