Ein internationales Forschungsteam hat den bisher ältesten Beweis für eine Vermischung zwischen Homo sapiens und Neandertalern entdeckt. Ein 140.000 Jahre alte Schädel eines Kindes aus Israel zeigt Merkmale beider Menschengruppen – und datiert die erste bekannte Vermischung etwa 100.000 Jahre früher als bisher angenommen.
Ein Fund verändert das Verständnis der menschlichen Evolution grundlegend: Forschende der Universität Tel Aviv und des französischen Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung haben den bisher ältesten Beweis für eine biologische Vermischung zwischen Homo sapiens und Neandertalern entdeckt. Ein 140.000 Jahre alter Schädel eines fünfjährigen Kindes aus Israel zeigt eindeutige anatomische Merkmale beider Gruppen.
"Die von uns untersuchten Fossilien sind der früheste bekannte physische Beweis für eine Paarung zwischen Neandertalern und Homo sapiens", wird Israel Hershkovitz von der Universität Tel Aviv in einer Mitteilung zitiert. In der Studie, die im Fachjournal "l'Anthropologie" veröffentlicht wurde, datieren die Forschenden die Vermischung zwischen diesen beiden Menschengruppen etwa 100.000 Jahre früher als bisher angenommen.
Einzigartiger Fund mit Merkmalen von Homo sapiens und Neandertalern
Der untersuchte Kinderschädel wurde bereits vor etwa 90 Jahren in der Skhul-Höhle am Berg Karmel in Nordisrael entdeckt. Mithilfe moderner Untersuchungsmethoden konnten die Forschenden nun nachweisen, dass das Kind sowohl Merkmale von Homo sapiens als auch von Neandertalern aufweist.
"Der Kinderschädel, der in seiner Gesamtform dem eines Homo sapiens ähnelt – besonders in der Wölbung der Schädeldecke –, hat ein intrakranielles Blutversorgungssystem, einen Unterkiefer und eine Innenohrstruktur, die typisch für Neandertaler sind", erklärt Hershkovitz.

Für ihre Untersuchung nutzten die Forschenden modernste Technologie. Sie scannten den Schädel und Kiefer mit Mikro-CT-Technologie und erstellten ein präzises dreidimensionales Modell. Das ermöglichte eine komplexe morphologische Analyse der anatomischen Strukturen – einschliesslich nicht sichtbarer Strukturen wie des Innenohrs – und einen Vergleich mit verschiedenen Hominidengruppen. Für die Untersuchung der Blutgefässstruktur um das Gehirn herum erstellten sie zudem eine genaue 3D-Rekonstruktion des Schädelinneren.
Bisherige Annahmen zur Menschheitsgeschichte müssen überdacht werden
Die Entdeckung stellt bisherige Annahmen über den Zeitpunkt der ersten Vermischung zwischen Homo sapiens und Neandertalern grundlegend infrage. Genetische Studien der vergangenen Jahrzehnte hatten bereits gezeigt, dass die beiden Gruppen Gene ausgetauscht haben – allerdings wurde dieser Austausch bisher auf einen Zeitraum vor 60.000 bis 40.000 Jahren datiert. Der bisher älteste bekannte physische Beweis für eine solche Vermischung war laut "The Times of Israel" ein etwa 40.000 Jahre alter Schädel aus einer rumänischen Höhle.
Die Forschungsergebnisse werfen auch neues Licht auf die frühe Besiedlungsgeschichte des Nahen Ostens. In einer Studie aus dem Jahr 2021 hatten Hershkovitz und seine Kollegen bereits gezeigt, dass frühe Neandertaler bereits vor 400.000 Jahren im heutigen Israel lebten. Diese Menschengruppe traf auf Homo sapiens-Gruppen, die vor etwa 200.000 Jahren begannen, Afrika zu verlassen.
"Traditionell haben Anthropologen die in der Skhul-Höhle entdeckten Fossilien zusammen mit Fossilien aus der Qafzeh-Höhle bei Nazareth einer frühen Gruppe von Homo sapiens zugeschrieben", erklärt Hershkovitz. "Die aktuelle Studie zeigt, dass zumindest einige der Fossilien aus der Skhul-Höhle das Ergebnis einer kontinuierlichen genetischen Vermischung der lokalen – und älteren – Neandertaler-Population mit der Homo-sapiens-Population sind."
"Die beiden 'Schwesterpopulationen' haben sich wahrscheinlich vermischt und Technologien und Jagdtechniken ausgetauscht."
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Entgegen früherer Annahmen deutet alles darauf hin, dass die Neandertaler nicht von Homo sapiens verdrängt wurden, sondern friedlich mit ihnen zusammenlebten und sich vermischten. "Die beiden 'Schwesterpopulationen' haben sich wahrscheinlich vermischt und Technologien und Jagdtechniken ausgetauscht", erklärt Hershkovitz gegenüber "The Times of Israel".
Da es keine Hinweise auf gewaltsame Auseinandersetzungen gibt, glaubt Hershkovitz, dass die Neandertaler, die weltweit vor 40.000 Jahren ausstarben, nicht von Homo sapiens überwältigt wurden, sondern in deren Population aufgingen und allmählich als eigenständige Population verschwanden. Noch heute tragen die menschlichen Gene Spuren der Neandertaler-Herkunft. (bearbeitet von sbi)
Verwendete Quellen
- Mitteilung der Tel Aviv University: "Earliest Evidence of Neanderthal–Homo sapiens Interbreeding Found in Israel"
- sciencedirect.com: Studie in L'Anthropologie Journal
- timesofisrael.com: "Study: Homo sapiens procreated with Neanderthals 100,000 years earlier than thought"