Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem Format "... und jetzt?" beantworten Menschen mit ganz unterschiedlichen Expertisen die sehr persönlichen Fragen unserer Leserinnen und Leser.
Es gibt mehr als schwarz und weiss, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die uns unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.
Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format persönliche oder sogar intime Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen dann mit verschiedenen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten – die sich mal ergänzen, mal widersprechen.
Eine Frage – verschiedene Antworten
In unserer aktuellen Ausgabe hat sich eine Person Antworten auf die folgende Frage gewünscht:
"Wie hält man eine Beziehung nach der Verliebtheitsphase weiter aufrecht und stabil?"
Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf diese Frage gegeben haben:
Torsten Geiling: Offene Kommunikation von Anfang an als Fundament
"Eigentlich ist es gut, dass sich diese Verliebtheitsphase irgendwann ändert, denn das ist ja wie eine Drogensucht. Man isst nicht, man schläft nicht und alles andere wird unwichtig. Man konzentriert sich nur noch auf den Partner – und so durchs Leben zu gehen, finde ich ziemlich anstrengend. Das Schöne ist natürlich, dass auch Hormone im Spiel sind – in der Verliebtheitsphase sind es eher die Hormone, die den sogenannten "Rausch" auslösen, während in der Liebesphase mehr das gemeinsame Nest im Vordergrund steht, das Wohlfühlen beim anderen und das gemeinsame Entspannen.
Ich finde es sehr wichtig, von Anfang an offen miteinander zu sprechen – je früher man über Dinge spricht, desto besser. Was ist mir wichtig? Wo sind meine Grenzen, was sind meine Träume, meine Leidenschaften? Wenn ich früh über diese Dinge spreche, kann ich auch besser auf meinen Partner eingehen oder ihm sagen, was bei mir nicht funktioniert. So können wir gemeinsam einen Weg finden, wie wir miteinander zurechtkommen. Wenn ich verliebt bin, rede ich vielleicht noch mehr über alles oder eben auch nicht. Aber genau da liegt das Geheimnis: von Anfang an wirklich offen und ehrlich miteinander zu sprechen. Das ist meiner Ansicht nach die Garantie, dass aus dieser Verliebtheit auch Liebe werden kann – und diese Liebe dann auch über die Jahre trägt."
Über den Gesprächspartner
- Torsten Geiling ist Kommunikationswissenschaftler und systemischer Coach. Er berät und begleitet Menschen, die sich trennen wollen, vor, während und nach einer Trennung.
- Er schreibt Ratgeberbücher wie "Ich will mich trennen". Sein neues Buch trägt den Titel "Du wusstest doch, dass ich Kinder habe!".
Simon Eickhoff: Gemeinsame Erwartungen verhindern Enttäuschungen
"Ich denke, es sollte einen Konsens darüber geben, was die Beziehung ist. Eine "One-Size-Fits-All"-Lösung kann es nicht geben. Wenn beide Partner das entsprechend sehen, kann von einer rein funktionalen Wohn- und Erwerbsgemeinschaft bis hin zu kontinuierlichem Wiedererwecken von Verliebtheitsmomenten alles funktionieren. Der entscheidende Punkt ist dabei aber die Kompatibilität der Vorstellungen – dass beide dieselbe Auffassung von der Beziehung teilen.
Neurobiologisch betrachtet lässt sich das so erklären: Wenn die Erwartungen unterschiedlich sind, wird es bei einem oder beiden Partnern immer wieder zu Enttäuschungen kommen. Und enttäuschte Erwartungen bedeutet neurobiologisch nicht nur das Fehlen einer Belohnung, sondern einen negativen Reiz. Man kann sich das so vorstellen: Wenn ich eine positive Erwartung habe, steigt die Aktivität meines Dopaminsystems. Wenn diese Erwartung dann eintritt, steigt die Aktivität nur noch leicht, weil viel schon über die Erwartung "eingepreist" war – Vorfreude ist also in der Tat die schönste Freude. Wenn die Belohnung jedoch ausbleibt, sinkt die Aktivität sogar unter das ursprüngliche Grundniveau, es kommt also zu einer Enttäuschung mit entsprechenden negativen Gefühlen.
Auch wenn dies experimentell vor allem auf kurzen Zeitskalen gezeigt wurde, lässt es sich gut auf die Alltagsrealität übertragen. Wenn ich Erwartungen oder Wünsche habe, die von denen meines Partners abweichen, dann erlebe ich jedes Mal, wenn er oder sie die Beziehung auf ihre eigene Weise lebt, eine Enttäuschung. Und das summiert sich zu immer grösseren negativen Gefühlen auf. Daher sollten beide Partner einen Konsens über ihre Beziehung haben und dieselben Grunderwartungen teilen. Wenn das nicht der Fall ist, wird es fast zwangsläufig dazu kommen, dass einer oder sogar beide durch ausbleibende "Belohnungssignale" enttäuscht werden."
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Simon Eickhoff leitet das Institut für Systemische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Düsseldorf und das Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.
- Seine Forschungsschwerpunkte sind die Gehirnorganisation und neue diagnostische Ansätze für neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Dabei setzt er auf Künstliche Intelligenz.
Sharon Brehm: Beziehung als sicheren Ort betrachten - und sie so lebendig halten
"Ich erlebe oft, dass Paare in dieser Anfangsverliebtheitsphase ganz offen miteinander sind. Die Sexualität ist leicht. Vieles funktioniert einfach, weil es noch nicht zu Verletzungen kam. Doch in dem Moment, in dem Groll entsteht, wenn ich traurig bin, mich einsam, zurückgewiesen oder überfordert fühle, kann es sein, dass ich nicht mehr so offen bin. Dass ich Dinge falsch verstehe oder mich zurückziehe.
Das bedeutet: Je mehr ich dafür sorge, dass unsere Beziehung ein sicherer Ort für uns beide bleibt, desto leichter wird es. Und das heisst nicht, dass ich alle Erwartungen meines Partners erfüllen muss, sondern es geht um gegenseitige Verantwortungsübernahme. Denn je mehr Sicherheit und Verbundenheit wir aufbauen, desto länger bleibt die Leichtigkeit und Lebendigkeit in der Beziehung erhalten."
Über die Gesprächspartnerin
- Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
- Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".
Paula Lambert: Bewusst ein Paar bleiben – durch Nähe und Rituale wie Date Nights
"Wenn man frisch verliebt ist, unterliegt man einem gigantischen Hormoncocktail, der im Grunde dazu führen sollte, dass man nicht vertragsfähig ist. Jeder weiss: Frisch Verliebte sind von aussen betrachtet unglaublich nervtötend. Natürlich ist das eine ganz tolle Phase, die naturgemäss dazu dient, Anziehung zu schaffen und die Bindung zu festigen – bis die Realität zuschlägt.
Und die kommt bei allen. Es ist eine totale Illusion zu glauben, dass Beziehungen immer so sein sollten wie in der Verliebtheitsphase. Zum einen wäre das für alle anderen unerträglich und zum anderen ist es einfach nicht so. Liebe ist das Commitment, mit diesem Menschen das Leben zu gestalten. Und zwar tatsächlich in den tiefen wie in den hohen Phasen.
Was man machen kann: Nicht in Funktionalität rutschen, sondern ein Paar bleiben. Also, dass der eine nicht immer nur dafür zuständig ist, die Dinge des täglichen Lebens zu klären, während der andere die Kinder hin und her fährt. Das vergessen ganz viele. Sie glauben, dass Liebe keine Arbeit braucht. Darum sind Date Nights, so kitschig das auch klingt, wirklich ein guter Faktor, um sich die Arbeitsnotwendigkeit in jeder Beziehung wieder bewusst zu machen und wieder Nähe herzustellen. Wie man aus dieser Verliebtheitsphase in die Realität übergleiten kann, ist eine Frage der Achtsamkeit – gegenüber den eigenen Bedürfnissen, den Bedürfnissen des anderen und den Bedürfnissen der Beziehung."
Über die Gesprächspartnerin
- Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
- Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.
Tanja Hoyer: Den eigenen Interessen nachgehen und Raum für Spannung schaffen
"Im Alltag passiert es schnell, dass man die Dinge, die man aus Gewohnheit macht, nicht mehr überprüft. Wenn man sich kennenlernt, ist man verliebt und man trifft sich regelmässig, geht essen, dann küsst man sich und hat vielleicht Sex. Weil es so schön war, wiederholt man es und wiederholt es wieder und wieder.
Und irgendwann gibt es einen Punkt, an dem eigentlich einer von beiden keine Lust mehr darauf hat, aber nicht ehrlich ist und nicht sagt, 'Heute würde ich aber gerne was anderes machen'. Und da ist dann der erste Knoten drin. Dabei wäre es wichtig zu sagen: 'Du, ich geh heute lieber Fussball spielen' oder 'Ich möchte heute lieber nur kuscheln'. Das ist häufig nicht persönlich gegen den Partner, sondern Selbstfürsorge.
Menschen brauchen Raum, um ihren eigenen Interessen nachgehen können und dann sind sie auch wieder neugierig aufeinander. Man muss immer wieder neu miteinander schauen, was jetzt toll oder schön wäre oder was für eine Begegnung heute spannend wäre. Wo kann man ehrlicher sein, besser auf seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse schauen? Dann kommt in eingefahrene Beziehungspfade wieder ein bisschen Leben rein.
Auch, wenn es um Sex geht. Viele Paare spulen immer das gleiche sexuelle Muster ab. Erst muss man sich küssen, dann streichelt man sich, dann wird vielleicht Oralverkehr gemacht und dann wird penetriert. Dann lohnt sich ein Blick von aussen: Was ist denn da jetzt eigentlich noch stimmig? Oder machen wir das nur, weil wir es immer so gemacht haben und weil es mal gut war? Und was können wir eigentlich heute mal machen, was viel spannender ist?"
Über die Gesprächspartnerin
- Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
- Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.
Michael Kühler: Von der Verliebtheit zur Liebe – gemeinsam wachsen
"Die Vorstellung, dass man diese Phase der Verliebtheit kontinuierlich weiterlaufen lassen kann, ist ein grundsätzlicher Fehler, der zwischen Verliebtheit und Liebe nicht hinreichend trennt. Nicht nur in der Philosophie der Liebe, sondern auch in der praktischen Alltagserfahrung.
Nach der Phase der Verliebtheit weiss man langsam, was so die Vorlieben der anderen Personen sind. Dieses Neue, Aufregende, das erste Kennenlernen und die Überraschungsmomente fallen weg, wenn man von dem Verliebtheitsstatus in eine Liebesbeziehung übergeht. Es geht darum, das zu akzeptieren und in die Phase des Liebens überzugehen.
Empfehlungen der Redaktion
Liebe ist eine andere Einstellung als die Verliebtheit. Lieben ist dann eben nicht mit so vielen Überraschungsmomenten verbunden. Sondern unter anderem mit der Haltung, dass man will, dass es der anderen Person gut geht und man selbst dazu beiträgt. In der Liebe würde es dann etwa darum gehen, gemeinsam als Personen aufeinander bezogen zu bleiben, also darauf, was der geliebten Person wichtig ist, und sich gemeinsam als Personen und als Paar weiterzuentwickeln."
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
- Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.
Hier finden Sie auch frühere Ausgaben von "... und jetzt?"
- Mein Partner hat keine Lust mehr auf Sex - und jetzt?
- Mitte 30, single, einsam - und jetzt?
- Ich verliebe mich immer in die Falschen - und jetzt?
- Ich möchte Liebe und Sex ohne Beziehung - und jetzt?
- Wir sind nur noch wegen der Kinder zusammen - und jetzt?
- Ich wünsche mir Seelenverwandtschaft - und jetzt?
- Ich finde jemand anderen als meinen Partner sexy - und jetzt?
- Ich habe ADHS und will eine Beziehung - und jetzt?
- Mehr Geld als der Partner - und jetzt?
- Die andere Person ist ewig in der Opferrolle - und jetzt?
- Ein Partner hat deutlich mehr Lust auf Sex - und jetzt?
- Ich kann mich einfach nicht fallen lassen - und jetzt?