Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem Format "... und jetzt?" beantworten Menschen mit ganz unterschiedlichen Expertisen die intimen Fragen unserer Leserinnen und Leser.

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Es gibt mehr als schwarz und weiss, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die uns unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.

Hier finden Sie auch frühere Ausgaben von "... und jetzt?"

Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format intime oder persönliche Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen mit verschiedenen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten – die sich mal ergänzen, mal widersprechen.

Eine Frage – verschiedene Antworten

In unserer aktuellen Ausgabe hat sich eine Person Antworten auf die folgende Frage gewünscht:

"Wie kann eine Beziehung trotz ADHS oder psychischen Erkrankungen funktionieren?"

Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf die Frage gegeben haben.

Paula Lambert: Sich selbst erkennbar machen und reden, reden, reden

"Ich habe auch ADHS und das funktioniert. In einer Beziehung muss man sich sowieso erkennbar machen. Wer bin ich? Wie ticke ich? Was triggert mich? Was ist schwierig für mich?

Paula Lambert
Paula Lambert © Lydia Gorges

Und je ehrlicher man damit umgeht, desto einfacher wird die Beziehung. Natürlich kann man von jemandem mit ADHS nicht erwarten, dass er oder sie die mega Struktur hat. Das ist einfach nicht so. Darauf muss sich der andere einlassen. Aber gleichzeitig hat der andere auch ein Recht darauf, bestimmte Dinge in einer bestimmten Weise haben zu wollen. Alles ist ein Kompromiss. Und psychische Erkrankungen, wie Depressionen – das ist natürlich schwierig für den anderen, damit umzugehen, aber gleichzeitig ist es nicht unmöglich. Darüber zu reden ist das A und O in jeder Beziehung."

Über die Gesprächspartnerin

  • Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.

Simon B. Eickhoff: Hinterfragen, wie sehr eine Erkrankung die Beziehung bestimmt

"Hier würde ich die Frage allgemeiner sehen, da die Situation letztendlich bei jeder Erkrankung ähnlich ist. ADHS unterscheidet sich also in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von Diabetes oder einer anderen körperlichen Erkrankung.

Simon Eickhoff
Simon Eickhoff © FZJ/Sascha Kreklau

Jede Erkrankung bringt Einschränkungen mit sich, die natürlich auch Auswirkungen auf Beziehungen haben. Ob eine Beziehung funktioniert trotz einer - seelischen oder körperlichen – Erkrankung, hängt dann letztlich davon ab, dass es in der Beziehung genug Positives auf beiden Seiten gibt, unabhängig von der Erkrankung.

Was hinzukommt, ist, wie sich jemand selbst im Hinblick auf seine Erkrankung definiert. Bin ich ein 'Erkrankter' oder jemand, der 'mit einer Erkrankung lebt'. Die Frage, wie sehr man sich mit der Erkrankung identifiziert und diese auch eine Beziehung bestimmen lässt, gilt für körperliche und psychische Erkrankungen gleichermassen."

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Simon Eickhoff leitet das Institut für Systemische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Düsseldorf und das Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.
  • Seine Forschungsschwerpunkte sind die Gehirnorganisation und neue diagnostische Ansätze für neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Dabei setzt er auf Künstliche Intelligenz.

Michael Kühler: Keine unnötigen Vorwürfe machen

"Hier würde ich erst einmal auf Psychologen verweisen, weil ich natürlich kein Spezialist für ADHS bin und für weitere psychische Erkrankungen auch nicht.

Prof. Dr. Michael Kühler
Prof. Dr. Michael Kühler © Fachhochschule Dortmund/Florian Freimuth

Philosophisch könnte man bei dieser Frage sagen, dass es erst einmal darum geht, dass die Partner sich in ihrer jeweiligen Besonderheit kennen, erkennen, anerkennen. Und dann ist wichtig, das im Alltag auch entsprechend zu berücksichtigen.

Das kann ganz konkret bedeuten: Der anderen Person also zum Beispiel keine Vorwürfe machen, wenn man doch genau weiss, dass die andere Person etwas nicht absichtlich getan hat."

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung an der Fachhochschule Dortmund.
  • Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.

Sharon Brehm: Platz für die Bedürfnisse beider schaffen

"Das Erste ist natürlich, egal ob ich jetzt psychisch krank oder körperlich krank bin, egal welche Hautfarbe ich habe – jeder hat Liebe verdient.

Bei einer psychischen Erkrankung oder wenn man das Gefühl hat, es gibt auf dieser Ebene ein Ungleichgewicht, ist es wichtig, dass auf der einen Seite Rücksichtnahme, Verständnis und die Fähigkeit, Sachen nicht persönlich zu nehmen, vorhanden sind. Das ist nicht immer einfach. Aber zu sagen: 'Okay, wenn mein Partner eine Depression hat, hat das nichts mit mir zu tun, dass er vielleicht gerade nicht so viel Lust auf Sex hat', ist wichtig.

Sharon Brehm
Dr. Sharon Brehm © Susanne Schramke

Aber genauso wichtig ist es, dass auch die Person, die gerade andere Themen mitbringt, auch Rücksichtnahme zeigt. Manchmal erlebe ich das so: Nehmen wir an, eine Person hat eine Krankheit - da dreht sich dann viel um die Belange der einen Person. Und das führt langfristig zu einem Ungleichgewicht, sodass die Person, die sich um die andere kümmert, irgendwann nicht mehr das Gefühl hat, sie sei ein Partner auf Augenhöhe.

Sie hat das Gefühl, sie muss dauernd stark sein, muss ihre eigenen Bedürfnisse runterschlucken. Und das kann zu Kränkungen oder auch zu Unwissenheit führen, wie man seine eigenen Bedürfnisse benennen kann. Und umgekehrt ist es für die andere Person manchmal schwierig, wenn sie diejenige ist, die 'schwach' ist oder das Problem hat.

In solchen Konstellationen ist wahnsinnig wichtig, dass man versucht, für beide Bedürfnisse Platz zu schaffen, ohne dass man sie bewertet. Und ja, es wird wahrscheinlich in der Tendenz eher um die Person gehen, die gerade durch eine emotionale oder psychische Krise geht. Trotzdem ist es genauso wichtig, die Bedürfnisse der anderen Person wahrzunehmen, weil man ein Paar ist und eben nicht Vater und Kind oder Mutter und Kind."

Über die Gesprächspartnerin

  • Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".

Tanja Hoyer: Sich selbst und die andere Person mit allen Wehwehchen akzeptieren

"Wir haben heute mehr und mehr Menschen mit ADHS, psychischen Erkrankungen, Menschen aus dem Autismus-Spektrum, Menschen mit sonstigen Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft. Das heisst, wir sollten damit ein gutes Miteinander finden. Ich glaube, das ist möglich.

Tanja Hoyer
Tanja Hoyer © privat

Ich hatte selber vor Jahren Depressionen und war auch in einer Partnerschaft. Es gibt natürlich Punkte, da ist es nicht einfach, miteinander in guten Kontakt zu kommen. Aber wichtig zu wissen ist, dass mein Leben und meine eigene psychische Verfassung ja erst mal nichts mit dem anderen Menschen zu tun hat. Das ist mein Space. Der andere darf so sein, wie er ist, mit seinen Wehwehchen oder eben mit keinem Wehwehchen. Und ich darf so sein, wie ich bin. Auch das ist ein grosser Lernprozess, meist hätten wir die andere Person gerne anders.

In Paarsitzungen arbeite ich oft mit einer Skizze: ein Kreis für dich, ein Kreis für deinen Partner und ein Kreis, der das verbindet, was für euch beide miteinander schön ist, also die Schnittmenge. Wenn du dich gut versorgst und wenn dein Partner gut versorgt ist, geht es darum, wie ihr dieses Wir schön gestalten könnt. Ein klassisches Bild nach dem Motto: 'Genau so muss eine Beziehung sein!' ist da nicht hilfreich. Denn eigentlich geht es um die Frage: Wie soll deine Beziehung sein, mit dem, was du mitbringst, mit ADHS oder ohne? Oder mit einer psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigung? Wie kannst du mit dem anderen glücklich sein und dich im Beziehungsleben so einrichten, dass du erfüllt bist? Finde die Beziehung, die dich glücklich macht."

Über die Gesprächspartnerin

  • Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
  • Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.

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