Einmal im Jahr schaut die ganze Welt auf die Münchner Theresienwiese. Wo sie nicht hinschaut, ist wenige 100 Meter weiter: Hier, im sogenannten Forum Schwanthalerhöhe, nur zwei, drei Minuten vom Wiesneingang entfernt, gleichen manche Szenen einem Gruselkabinett.
Scherben, Dreck, Erbrochenes, Urin, laute Musik, Grölen. Wer die Wiesn Richtung Schwanthalerhöhe verlässt, geht oft am Forum Schwanthalerhöhe vorbei, einem mittelgrossen Einkaufszentrum, an hohen Wohnhäusern, Geschäften und Restaurants. Menschen, die Flaschen sammeln, sind hier zur Wiesnzeit mit Einkaufswagen unterwegs. Hinter dem Grünstreifen gegenüber ist ein eingezäunter Kinderspielplatz.
Zum Oktoberfest trinken die Leute hier auf dem Hin- und Rückweg, warten an den flachen Stufen oder kaufen sich Mandeln oder noch mehr Alkohol an den Ständen. Bei Burger King, beim Bäcker und vor dem italienischen Restaurant, gefühlt an jedem Eingang, sind zur Wiesnzeit Sicherheitskräfte.
Auch vor der italienischen L‘Osteria stehen dann zwei Securitys, um ab dem späten Nachmittag für die Sicherheit der Gäste zu sorgen. Allerdings kommen viele Oktoberfestbesucher bereits vormittags. "Die trinken dann hier ihre sechs bis sieben Helle, bevor sie auf die Wiesn gehen", sagt eine 19-jährige Kellnerin während ihrer Schicht.
Sie erzählt davon, wie wenig Trinkgeld viele Touristen geben und dass betrunkene Gäste sie auch schon ein paar Mal angegrapscht haben. "Da gebe ich dann dem Security Bescheid, und er schmeisst den sofort raus", sagt sie so, als gehöre das leider einfach dazu. Eine pragmatische Lösung da, wo es eigentlich mehr Schutz durch Gesetze, empfindliche Strafen für Täter und einen ernsthaft geführten gesellschaftlichen Diskurs bräuchte. Was auf der Welt schiefläuft, macht auch vor keinem Bierzelt Halt. Oder ein paar hundert Meter weiter.
Das weiss auch Kristina Gottlöber. Gemeinsam mit Manuela Soller arbeitet sie für die "Sichere Wiesn", einem Safe Space direkt auf dem Oktoberfest. Auch ihr Ansatz ist es, pragmatisch Hilfe zu leisten, wenn Frauen in schwierigen Situationen sind. In dem Raum im Service-Zentrum direkt hinter dem Schottenhamel-Zelt auf dem Oktoberfest finden Frauen* und Mädchen in Not Unterstützung. Zwölf Frauen suchten Hilfe, nachdem sie sexualisierte (10) oder körperliche (2) Gewalt erlebt hatten. Bei sechs Personen bestand der Verdacht, dass ihnen jemand K.O.-Tropfen ins Glas gekippt hat.
Endgegner AirBnB
Insgesamt sind bisher (Stand 29. September) 197 Frauen und Mädchen im Safe Space gewesen. Der Grossteil hat Unterstützung dabei gebraucht, sicher nach Hause zu kommen. "Eine Situation kann schnell kippen und bedrohlich werden", sagt Gottlöber. Etwa, wenn man seine Gruppe verliert, weil man gerade beim Rauchen war, nicht mehr ins Zelt kommt oder das Handy nicht mehr funktioniert.
Viele junge Frauen haben genau das erlebt, wenn sie Gottlöber und ihre ehrenamtlichen Kolleginnen aufsuchen. Handelt es sich um Touristinnen, die sich nicht mehr an ihr Hotel erinnern, leisten Gottlöber und ihr Team schon mal "Detektivinnenarbeit". "Einmal konnte sich eine Frau nur noch an eine Krone im Hotellogo erinnern, dann haben wir mit der Googlebildsuche gearbeitet und bei verschiedenen Hotels angerufen", sagt sie. Besonders schwierig wird es, wenn die Frauen in Ferienwohnungen schlafen. "AirBnB ist unser Endgegner", sagt Manuela Soller.
Doch auch Frauen aus dem Landkreis und München selbst kommen in den Safe Space, wenn sie in einer Ausnahmesituation sind. Zum Beispiel, wenn sie einen Übergriff erlebt und Angst vor dem Nachhauseweg haben. Dann rufen Gottlöber und Co. Taxen, geben Gutscheine aus – oder setzen sich selbst ans Steuer und fahren die Frauen nach Hause.
"Wir wissen, dass das nötig ist, weil die Wiesn ist, wie sie ist", fasst Manuela Soller all das zusammen, was sie mit ihrem Team für Frauen tut, die gerade Schreckliches erlebt haben: Aufklärungsarbeit über Strafanzeigen, Heimwegorganisation, Schlafplatzsuchen und manchmal einfach Zuhören.
"Sicherheit? Geht so."
Denn wie überall dort, wo viele Männer viel Alkohol konsumieren, fühlen sich viele Frauen unwohl. "Sicherheit? Geht so", sagt eine 30-jährige Wiesnanwohnerin. Sie steht mit einem Paket in der Hand vor dem Einkaufszentrum. "Schon ein, zwei Wochen vor der Wiesn rufen einem hier Männer hinterher", sagt sie. "Wenn zur Wiesn selbst viele Menschen um das Gelände unterwegs sind, fühle ich mich sicherer." Sie selbst geht gerne auf die Wiesn – wie viele andere Menschen im Viertel. "Die Wiesn gibt es schon deutlich länger, als es mich gibt", sagt sie. "Wenn man das hier nicht mag, sollte man nicht herziehen."
Ganz anders empfindet es eine Frau aus der Nachbarschaft: Zwar respektiere sie, dass die Wiesn für viele ein einmaliges Erlebnis ist, doch der extreme Alkoholkonsum gehöre inzwischen zum guten Ton. "Die Besoffenen fallen schon in der Früh aus der U2", sagt die 59-jährige Anwohnerin mit strengem Zopf, lilafarbener Bluse und farblich passender Brille mit Nachdruck, als hätte sie dieses Gespräch schon viele Male geführt.
"Einmal lag einer vor der Haustür und hat sich nicht mehr bewegt, ich habe dann den Krankenwagen gerufen", sagt sie. Sie selbst lebt hier seit vielen Jahren und war ein-, zweimal selbst auf der Wiesn. Inzwischen fühlt sie sich während der Wiesnwochen sehr unwohl in ihrem Viertel. "Ich sehe hier manchmal betrunkene Mädels mit einer leeren Sektflasche auf der Bank liegen. Am liebsten würde ich sie rütteln und sagen: Pass auf, du weisst nicht, was heute noch passieren kann‘".
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Im Vergleich zu einer "überaus friedlichen Vorjahreswiesn" passiert laut Münchner Polizei in diesem Jahr mehr. Laut polizeilicher Wiesn-Halbzeitstatistik liegt die Zahl der registrierten Straftaten bei 414 Anzeigen. 2024 wurden 317 Straftaten registriert, 2023 waren es allerdings 479. Die Anzahl der Sexualdelikte bewege sich 2025 mit 33 Anzeigen bislang auf dem Niveau der Vorjahre. Der Grossteil davon: sexuelle Belästigung oder das heimliche Fotografieren unter den Rock, das sogenannte Upskirting.
Die Verantwortung liegt nicht bei den Frauen
"Die Statistik erfasst allerdings nur die Vorfälle auf dem Wiesngelände selbst", gibt Manuela Soller von der "Sicheren Wiesn" zu bedenken. "Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist, gerade wenn die Leute die Festzelte verlassen." Doch auch die Mitarbeiterinnen der "Sicheren Wiesn" lassen sich das Fest, das Millionen Menschen jedes Jahr nach München zieht, nicht verderben. Wie viele der Münchnerinnen, die sich an diesem Tag durchaus auch kritisch äussern, gehen auch sie privat auf die Wiesn. Auf der Pressekonferenz zur Wiesnhalbzeit betont Soller: "Unsere wichtigste Botschaft ist: Frauen dürfen auf der Wiesn trinken, flirten, knutschen, und sich etwas ausgeben lassen. Es ist nicht ihre Verantwortung, dass keine Übergriffe geschehen – sondern die der Täter."
Verwendete Quellen
- Reportage vor Ort
- Pressekonferenz "Sichere Wiesn"
- Material der dpa