Als Psychotherapeutin weiss Ellen Flies: "Ohne Emotionen wären wir schlicht entscheidungs- oder handlungsunfähig." Daher plädiert sie auch dafür, Emotionen wie Wut als Kraftquelle zu nutzen. Im Interview erklärt Flies, warum weibliche Wut politisch ist und was Männer aus ihrer Sicht tun können, damit weibliche Wut richtig verstanden werden kann.

Ein Interview

Frau Flies, was genau ist eigentlich Wut?

Ellen Flies: Wut zählt – neben Freude, Angst, Traurigkeit und Liebe – zu den sogenannten Basisemotionen. Häufig wird sie, ähnlich wie Angst oder Trauer, als "negative" Emotion betrachtet. Doch ich halte diese Unterscheidung für irreführend. Emotionen sind keine Störungen, sie sind Ressourcen: Sie liefern die Energie, die unser Handeln erst möglich macht. Ohne Emotionen wären wir schlicht entscheidungs- oder handlungsunfähig.

"Wut ist keine primitive Regung. Sie ist eine evolutionär verankerte Kraftquelle."

Ellen Flies

Gerade aus Embodiment-Perspektive zeigt sich: Wut hat eine hochaktive, vitalisierende Qualität. Während Angst unseren Körper in den Rückzug versetzt, weil wir sie zur Flucht benötigen, richtet uns Wut auf. Wir benötigen sie ursprünglich zum Angriff. Sie aktiviert unseren Körper, macht uns klar, wo unsere Grenze liegt und wofür wir einstehen wollen. Wut ist keine primitive Regung. Sie ist eine evolutionär verankerte Kraftquelle. Und sie ist, das ist mir besonders wichtig, die emotionale Hüterin unserer Werte.

Was ist Embodiment?

  • Embodiment in der Psychologie bedeutet, dass Körper und Geist eng zusammenarbeiten: Gedanken und Gefühle zeigen sich im Körper und Körperhaltungen beeinflussen unser Erleben. So sind Körper und Psyche untrennbar verbunden.

Sprechen wir in diesem Zusammenhang über die weibliche Wut, die jahrhundertelang unterdrückt wurde. Wie kam es dazu?

Wut passt nicht ins klassische Bild von Weiblichkeit. Mädchen lernen früh: Wer laut wird, gilt als schwierig. Wer Grenzen setzt als egoistisch. Viele übernehmen, oft unbewusst, eine emotionale Überlebensstrategie: "Nur wenn ich immer brav, verständnisvoll und hilfsbereit bin und niemals wütend, bleibe ich geschützt und anerkannt." Diese innere Programmierung wirkt tief, transgenerational, kulturell, zum Teil religiös verstärkt. Sie macht weibliche Wut unsichtbar oder verwandelt sie in Tränen, Rückzug oder Selbstzweifel. Und sie verhindert, dass Frauen ihren eigenen inneren Kompass klar spüren, sich für das einsetzten, was ihnen wirklich wichtig ist – in einer Weise, die für sie stimmig ist. Ob im aussen sichtbar oder leise im Inneren: Es geht darum, sich selbst treu zu sein und das eigene Potential zu leben. Nicht jede muss laut sein. Nicht jede muss sichtbar sein. Aber jede darf ihren Raum einnehmen – so, wie es ihr entspricht.

Ist weibliche Wut Ihrer Meinung nach also politisch?

Absolut. Weibliche Wut ist zutiefst politisch. Gerade weil sie so lange systematisch unterdrückt wurde. Es ist kein Zufall, dass es noch immer deutlich weniger weibliche Führungskräfte oder den Gender Pay Gap gibt. Wenn wir es ganz genau nehmen, beginnt diese Prägung nicht erst im Beruf, sondern bereits im Kinderzimmer. Mädchen lernen früh, angepasst, freundlich und umsorgend zu sein. Ich denke dabei oft an das berühmte "Hohelied der Liebe", in dem es sinngemäss heisst: Eine gute Frau ist eine schweigsame Frau. Solche Botschaften prägen uns – über Generationen hinweg. Sie wirken in unsere Sprache hinein, in unsere Körpersprache, in unsere Entscheidungen. Insofern scheint diese Prägung gewissermassen in unserer DNA verfestigt zu sein.

Das Fatale ist: Diese Konditionierung wirkt oft leise aber nachhaltig. Sie zeigt sich, wenn Frauen ihre Meinung zurückhalten, obwohl sie eine klare Haltung haben. Wenn sie Verantwortung übernehmen, aber zögern, sie sichtbar zu machen. Wenn sie spüren, dass etwas nicht stimmt – aber lieber still bleiben, um nicht als "schwierig" zu gelten. Wut wird dann nicht als berechtigte Grenze erlebt, sondern als Makel. Dabei ist sie in Wahrheit oft ein Aufschrei nach Integrität.

In diesem Zusammenhang beschäftigen Sie sich mit Embodiment – wie kam es dazu?

2011 bin ich auf das ALBA-Emoting-System der chilenischen Neurowissenschaftlerin Susana Bloch gestossen. Sie hat gezeigt, dass sich Basisemotionen wie Wut, Freude oder Angst über spezifische Atemmuster und Körperhaltungen aktivieren lassen. Das war für mich ein Wendepunkt: endlich ein Zugang, der nicht über darüber sprechen funktioniert, sondern über den Körper selbst. Embodiment bedeutet: Gefühle entstehen nicht nur im Kopf. Sie sind verkörpert und damit auch über den Körper veränderbar. Wenn wir atmen, uns aufrichten, eine bestimmte Haltung einnehmen, beeinflusst das direkt unsere emotionale Wahrheit. Gerade bei Frauen erlebe ich in meiner Arbeit häufig Tränen, wo eigentlich Wut wäre.

"Emotionen sind nicht nur kognitiv, sie sind körperlich spürbar."

Ellen Flies

Hier sprechen wir von "primären" und "sekundären" Emotionen: Die primäre Emotion – hier Wut – ist eine direkte, angemessene Reaktion auf die Situation. Die sekundäre Emotion – hier Traurigkeit – ist oft ein erlerntes Ersatzgefühl, das uns Schutz bietet, aber uns auch von unserer eigentlichen Kraft abschneidet. Die Arbeit mit Embodiment hilft, genau diese Differenz zu erspüren und sich Schritt für Schritt wieder mit der ursprünglichen Kraft zu verbinden. Die gute Nachricht: Die Arbeit mit dem Körper funktioniert um ein Vielfaches schneller als Reden allein.

Worum genau geht es bei Embodiment?

Embodiment bedeutet: Wir sind keine Einbahnstrasse. Nicht nur der Kopf beeinflusst den Körper und unsere Emotionen – auch der Körper wirkt auf unsere Gedanken, Gefühle und Entscheidungen zurück. Emotionen sind nicht nur kognitiv, sie sind körperlich spürbar. In unserer Haltung, im Atem, in der Spannung oder Weite, die wir in unserem Brustraum empfinden.

Gerade für Frauen, die gelernt haben, sich emotional zurückzuhalten, kann diese Erkenntnis ein Durchbruch sein: Wenn ich mich aufrichte, atme, meinen Raum spüre, dann verändert sich nicht nur meine Aussenwirkung, sondern auch mein inneres Erleben. Ich komme mir selbst näher. Der Körper ist kein Nebenschauplatz. Er ist ein kluges, emotionales System. Wer sich mit ihm verbindet, gewinnt Zugang zu mehr Selbstwahrnehmung. Denn emotionale Präsenz lässt sich nicht denken – sie muss verkörpert werden. Unser Körper und unsere Emotionen verbindet sozusagen eine direkte Liebesbeziehung zueinander.

Wir können also allein mit unserem Körper Wut herstellen?

Ja, und zwar auf sehr gezielte Weise. In meinen Coachings zeigt sich immer wieder: Frauen kommen mit Tränen, doch was dahinterliegt, ist oft keine Traurigkeit, sondern unterdrückte Wut. Die eigentliche Emotion ist verdeckt und zeigt sich erst, wenn wir systematisch mit dem Körper arbeiten. Dabei springen wir nicht sofort zur vermeintlich "richtigen" Emotion. Im Gegenteil! Wir gehen bewusst in die sekundäre Emotion – diejenige, die zuerst auftaucht. Hier Traurigkeit mit Tränen. Wir verstärken sie körperlich, lassen sie sich ausdrücken, noch spürbarer werden.

Und genau in diesem Prozess beginnt oft eine Transformation: Die sekundäre Emotion ebbt ab und die darunterliegende poppt auf, wird sichtbar und fühlbar. Wenn aus Traurigkeit Wut wird, im geschützten Coaching-Raum – klar, lebendig und willkommen – ist das ein zutiefst berührender Moment und gleichzeitig eine neue Lernerfahrung. Denn die Frau spürt: "Ich bin nicht zu sensibel. Ich bin klar. Und ich darf diese Grenze fühlen." Diese verkörperte Wiederbegegnung ist kein theatrales Ausagieren, sondern ein innerer Reifungsprozess und der Beginn echter emotionaler Selbstführung.

Welche weiteren körperlichen Reaktionen kann Wut in uns auslösen?

Aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung kann ich sagen: Viele Panik- oder Angststörungen sind in Wahrheit verdeckte Wutstörungen. Die ursprüngliche Emotion, durfte oft nicht gelebt werden. Stattdessen übernimmt eine andere, gesellschaftlich "erlaubtere" Emotion wie Angst die Rolle einer inneren Notbremse. Das Nervensystem schützt sich auf diese Weise vor einem Gefühl, das als gefährlich oder verboten abgespeichert wurde. Die gelernte Funktion, wie etwa die Angst, dient in diesem Moment als Notbremse des Nervensystems. Umso wichtiger ist es, diese Emotionen, die häufig durch andere Emotionen überlagert werden, in einem geschützten Raum wieder an die Oberfläche zu holen. Das möchte ich in meinen Coachings erreichen.

Sie hatten eingangs von Wut als Ressource gesprochen. Was genau meinen Sie damit?

Wut ist eine vitalisierende Kraft. Sie richtet uns innerlich auf und bringt uns in Kontakt mit dem, was uns wirklich wichtig ist. Mit unseren Werten. Wenn wir sie im Körper spüren können, entsteht innere Klarheit: Ich darf stehen, wo ich stehe. In der Psychologie sprechen wir vom peripersonalen Raum – dem Raum, der uns umgibt und den wir als zu uns gehörig empfinden. Dieser Raum weitet sich mit Gefühlen wie Wut oder Stolz. Und er schrumpft mit Angst oder Scham.

Empfehlungen der Redaktion

In der Embodiment-Arbeit nutzen wir einfache körperliche Signale, um diesen Raum bewusst zu gestalten. Eine offene Handfläche lädt zur Begegnung ein, eine gekippte Handfläche markiert eine Grenze. Beides braucht Bewusstsein – und Mut. Denn nur wer Nein sagen kann, kann sich auch mit dem eigenen Ja verbinden. Wut unterstützt dabei. Sie hilft, sich abzugrenzen, ohne sich zu verhärten. "Nein" ist eines der ersten Wörter, die Kinder in ihren Sprachgebrauch aufnehmen – und eines der ersten, das viele Erwachsene wieder verlernen. Wir können unsere Werte nur dann wirklich verkörpern, wenn wir sowohl unsere Wünsche als auch unsere Grenzen spüren. Werte allein wirken bereits stressreduzierend – doch wenn sie emotionalisiert und körperlich verankert sind, entsteht etwas Nachhaltiges. Dann wird aus Attitude echte Haltung.

Über die Gesprächspartnerin

  • Ellen Flies ist Diplom-Psychologin, approbierte Psychotherapeutin und Gründerin des CIB Coaching Instituts Bonn. Sie gilt als Expertin für embodied Leadership und hat das Coachingformat SBEAT® entwickelt – ein emotionsaktivierender, wissenschaftlich fundierter Ansatz an der Schnittstelle von Psychologie, Neurowissenschaft und Management. Mit über 30 Jahren Erfahrung als Coachin, Lehrtherapeutin und Supervisorin plädiert sie für mehr emotionale Kompetenz in Führung und Coaching: "Wer führen will, muss fühlen."