Finden Sie Krähen auch ein bisschen unheimlich? Vielleicht liegt das auch daran, dass sie ein bisschen klüger sind, als wir es von Vögeln erwarten.
Von ihrer Dachterrasse aus verfolgen meine Nachbarn abends oft ein kleines Schauspiel. In der letzten hellen Stunde des Tages gleiten gefiederte Schatten am Himmel vorbei. Mal einzelne, mal in Gruppen. Häufig ganz stumm, manchmal mit einem Krächzen. Aber alle haben offenbar dasselbe Ziel: einen Baum in der nahen Ferne, irgendwo im Berliner Dächermeer.
Wenn im Herbst der Tag in den Abend übergeht, schlägt die Stunde der Krähen. Jedenfalls kommen sie dann aus allen Himmelsrichtungen zusammen, versammeln sich auf einem Baum, ziehen manchmal noch weiter zu einem anderen. Was genau sie zusammentreibt, ob sie sich dort etwas "erzählen", können wir nur erahnen. Forschende haben aber herausgefunden, dass Krähen auf ihren Treffpunktbäumen offenbar Informationen austauschen. Zum Beispiel über ergiebige Futterstellen, an denen es sich am nächsten Tag vorbeizuschauen lohnt. Im Herbst und Winter sind sie auf solche Tipps dringend angewiesen.

Blick aus dunklen Augen
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu Krähen. Sie wirken auf mich interessant – und gleichzeitig unheimlich. Weil es immer so scheint, als wüssten, als könnten sie mehr als andere Vögel.
Vielleicht ist das eine Folge der Kulturgeschichte. Auf Bildern, in Büchern und Filmen sind sie Gefährten von Zauberern oder Götterboten, aber sie bringen auch Unheil oder Tod. In Alfred Hitchcocks Filmklassiker "Die Vögel" terrorisieren sie zusammen mit Möwen und Spatzen eine Kleinstadt. Es scheint oft, als umgebe sie etwas Morbides. Vincent van Gogh hat 1890 ein wuchtiges Bild mit Krähen über einem gelben Getreidefeld und vor einem unnatürlich blauen Himmel gemalt. Es soll eines seiner letzten Bilder gewesen sein, bevor er sich das Leben nahm.
Die Menschen haben die Krähen immer mit einer Mischung aus Respekt und Faszination betrachtet. Die norwegische Autorin und Biologin Hanna Bjorgaas führt unser Unbehagen beim Anblick von Krähen auch auf deren Augen zurück. Denn ihre Iris ist genauso dunkel wie die Pupille und der Kopf drumherum. Deswegen wissen wir nie so genau, ob eine Krähe uns anschaut oder nicht. Bei der Dohle, einem anderem bei uns heimischen Krähenvogel, ist das anders: Sie schaut aus hellblauen Augen in die Welt.
Die innerdeutsche "Krähengrenze"
Bisher habe ich nur von "den Krähen" gesprochen, obwohl das nicht ganz korrekt ist. Denn es gibt unterschiedliche. Durch Deutschland verläuft in dieser Hinsicht eine Trennlinie, die "Krähengrenze". Vereinfacht gesagt lebt überall westlich der Elbe die komplett schwarze Rabenkrähe, östlich des Flusses die Nebelkrähe. Bei ihr sind Kopf, Flügel und Schwanzfedern schwarz, der Rest des Körpers grau.
Rabe oder Krähe?
- Die beiden Begriffe werden häufig synonym verwendet. Allerdings gibt es in Deutschland unterschiedliche Vogelarten mit diesen Namen.
- Neben Rabenkrähe und Nebelkrähe gibt es noch den selteneren Kolkraben. Er ist noch etwas grösser – von der ebenfalls komplett schwarzen Rabenkrähe aber nicht immer auf den ersten Blick zu unterscheiden.
- Einfach auseinanderhalten lassen sich aber die Rufe. Während die Krähen passend zu ihrem Namen "krah" oder "kräh" rufen, hört sich der tiefere Ruf des Raben eher nach "grok-grok" an.
Krähen unter Krähen: Genossen und Todfeinde
Krähen haben ein komplexes Sozialverhalten. Für uns mögen sie alle gleich klingen, doch jede einzelne von ihnen hat eine individuelle Krächzstimme, an der Artgenossen sie wiedererkennen können. Im Herbst und Winter versammeln sich Krähen wie erwähnt häufig in Scharen, um Informationen auszutauschen. Auch während der Brutzeit halten sie zusammen, falls es einen Feind zu vertreiben gilt. Dann lässt sich beobachten, wie sie einen Mäusebussard oder einen Habicht am Himmel drangsalieren oder mit gezielten Sturzflügen einen Fuchs in die Flucht schlagen.

Trotzdem ist die Brutzeit keine Zeit des tierischen Friedens. Nichtbrütende Krähen sind die ärgsten Feinde ihrer brütenden Mitkrähen – weil sie regelmässig Küken aus dem Nest stehlen und verspeisen. Dem Biologen Cord Riechelmann zufolge sind Krähen für die meisten Verluste ihrer brütenden Artgenossen verantwortlich.
Die Krähenkultur
Wie gesagt: Grusel und Faszination liegen bei der Krähe nah beieinander. Auch ihre Intelligenz ist legendär. Sie gehört zu den Tieren, die nicht nur angeborenes Wissen anwenden, sondern selbst in der Lage sind, Probleme innovativ zu lösen.
Bei Versuchen der Max-Planck-Gesellschaft mit Geradschnabelkrähen auf der Insel Neukaledonien waren diese nicht nur imstande, Stöcke als Werkzeuge zu benutzen – sie bauten sich die passenden Werkzeuge sogar zusammen, indem sie verschiedene Stöcke ineinandersteckten. Zuerst in Tokio, später auch in München und anderen Grossstädten wurde beobachtet, dass Krähen Nüsse aus der Luft auf Strassenkreuzungen fallen lassen, um sie von den Autoreifen knacken zu lassen.
Und dann wären da noch die Versuche des US-amerikanischen Vogelforschers John Marzluff in Seattle. Er und seine Mitarbeiter zogen sich eines Tages Neandertaler-Masken über, fingen in einem Park auf dem Uni-Campus Krähen ein und liessen sie danach wieder frei.
Die Tiere merkten sich diese negative Erfahrung nicht nur – sie gaben sie offenbar auch an ihre Nachkommen weiter: Eigentlich interessierten sich die Tiere nicht sonderlich für die Menschen im Park. Doch jedes Mal, wenn ein maskierter "Neandertaler" dort auftauchte, sorgte er bei den Krähen für Angst und Aufregung. Selbst fünf Jahre später noch, als die einst eingefangenen Vögel womöglich schon nicht mehr lebten.
Die Norwegerin Hanna Bjorgaas vermutet deshalb sogar, dass es so etwas wie eine "Krähenkultur" gibt: Wissen, das die Vögel an Artgenossen und sogar über die Generationen hinweg weitergeben.
Wenn ich eine Nebelkrähe höre und sehe, die vom Baum oder Häuserdach in die Luft krächzt und mich dabei aus ihren dunklen Augen beobachtet oder auch nicht, schiesst mir immer wieder ein Satz von Bjorgaas in den Kopf: Vielleicht weiss die Krähe ja mehr über uns als wir über sie.
Zum Weiterlesen
- Hanna Bjorgaas: Das geheime Leben in der Stadt. Nachrichten aus der urbanen Wildnis, Stroux Edition
- Cord Riechelmann: Krähen. Ein Porträt, Naturkunden, Verlagsgesellschaft MSB Matthes & Seitz