Am 1. Juni findet die entscheidende Stichwahl in Polen statt, die auch die europäische Stabilität beeinflussen könnte. Proeuropäische Stimmen hoffen auf einen Sieg von Rafał Trzaskowski, während die Gefahr eines nationalistischen Präsidenten wie Karol Nawrocki droht. Eine polnische Politologin gibt Einblicke in die aktuelle Lage und warnt vor dem Erstarken der Ultrarechten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Dominik Bardow sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es war ein kleiner Schock: Bei der Präsidentschaftswahl in Polen lag der proeuropäische Kandidat Rafał Trzaskowski in Umfragen lange klar vorn. In der ersten Wahlrunde Mitte Mai lag er dann mit 31,4 Prozent Stimmen nur knapp vor dem nationalistischen Konkurrenten Karol Nawrocki (29,5). Rechte Kandidaten erreichten zusammen über 50 Prozent, was vor der Stichwahl aufhorchen lässt.

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Vor dem zweiten Wahlgang am Sonntag bangen Europäische Union (EU) und Deutschland: Droht im Nachbarland ein populistischer Präsident, der die EU weiter spaltet und Reformen verhindert? "Die Lage ist ernst", analysiert die polnische Politologin Renata Mieńkowska-Norkiene. "Vor den Wahlen war uns nicht ganz bewusst, wie stark die euroskeptischen und populistischen Kräfte sind."

Polen fiel in Demokratie-Rankings hinter Ungarn

Dabei hat Polen einige Erfahrung mit ihnen. Die Partei Recht und Gerechtigkeit, auf Polnisch PiS, stellte 2005 bis 2007 und 2015 bis 2023 die Regierung und brachte das Land auf autoritären Kurs. In Demokratie-Rankings fiel Polen hinter Ungarn. Nach dem Sieg der Bürgerkoalition KO in den Parlamentswahlen 2023 hofften Pro-Europäer in Polen nun auch auf einen liberalen Präsidenten.

Denn in Polen hat das Staatsoberhaupt die Macht, Gesetzesvorhaben der Regierung zu blockieren. Der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda verhinderte so viele Reformen, doch darf nicht mehr antreten. Mit Trzaskowski hätten es Vorhaben der KO wie mehr Abtreibungs- und LGBTQ-Rechte einfacher. Doch nun scheint es nicht mehr ausgemacht, dass der bisherige Bürgermeister Warschaus gewinnt.

Ultrarechter Kandidat: Keine Juden, Schwule und EU

In letzten Umfragen vor dem zweiten Wahlgang am 1. Juni lag er weiter nur knapp vor Nawrocki. "Das Land ist extrem polarisiert zwischen den zwei grossen Blöcken", sagt Mieńkowska-Norkiene, der das Erstarken ultrarechter Politiker Sorge bereitet. Sławomir Mentzen, der sein Programm einst mit "keine Juden, Schwule, Abtreibung, Steuern und EU" zusammenfasste, erreichte 14,8 Prozent.

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Mieńkowska-Norkiene erklärt, dass vor allem jüngere Wähler für Politiker wie Mentzen stimmten. "Viele sind sowohl mit PiS als auch KO unzufrieden", sagt sie. Einige hätten als Rebellion gegen die Mainstream-Politik abgestimmt. Fraglich ist, für wen sie jetzt im zweiten Wahlgang votieren. Mentzen sehe sich nun als Königsmacher, stelle Forderungen und lade Kandidaten zu Treffen ein.

Bier und Schnupftabak könnten die Wende bringen

Dass auch Trzaskowski einem Treffen zustimmte, brachte dem Mitte-Links-Kandidaten Kritik ein. Die Politologin sieht es anders. "Dass er bereit ist, mit Rivalen ein Bier zu trinken, könnte jungen Wählern gefallen, die einen anderen Politik-Stil suchen." Sie seien oft über Social Media politisiert. "Trzaskowski hat den Negativ-Trend einer eher langweilen Kampagne gestoppt und könnte siegen."

Über Nawrocki hingegen verliert Mieńkowska-Norkiene kaum ein gutes Wort. "Er ist ein Bandit", sagt sie. In keinem anderen Land dürfte der PiS-Kandidat nach so vielen Skandalen noch antreten. Unter anderem wurden ihm eine Hooligan-Vergangenheit und Schnupftabak-Konsum vorgeworfen. Nawrockis Wähler-Potential sei begrenzt, er vielen suspekt. Sie schätzt die Chancen auf 50-50 ein.

Welche Rolle spielt Deutschland?

In Deutschland haben sich rekordverdächtige 112.000 Polen zur Stimmabgabe registriert, Briefwahl ist nicht möglich. Insgesamt sind 54 Urnen deutschlandweit am Wahltag von 7:00 bis 21:00 Uhr geöffnet. Falls Nawrocki siegt, drohen nicht nur Vetos, die auch EU- und Nato-Projekte behindern könnten. "Er könnte Chaos stiften und vorgezogene Parlamentswahlen anstreben, damit dort die PiS siegt." Das könnte zur weiteren Erosion der Demokratie führen, mit Folgen für die europäische Sicherheit. Im Wahlkampf redete Historiker Nawrocki negativ über die Ukraine und Deutschland, gut über Trump.

Wobei das Verhältnis zu Deutschland nun keine grosse Rolle spiele, wie Mieńkowska-Norkiene sagt. Im Wahlkampf ging es eher um Themen wie das Gesundheitssystem und die Lebenshaltungskosten. "Die antideutsche Karte wurde kaum gespielt", sagt sie, auch da Bundeskanzler Friedrich Merz sich positiv über Polen äusserte. "EU und Deutschland sollten sich aber zurückhalten mit Unterstützung", sagt die Politologin. Diese bewirke oft das Gegenteil und werde von rechten Kräften ausgeschlachtet.

Polens Regierung hat nicht zu wenig geliefert

So werde Premierminister Donald Tusk oft als Deutschenfreund diffamiert. Es sei Trzaskowskis Fehler gewesen, sich nicht genug von Tusk distanziert und mehr Eigenständigkeit betont zu haben. "Er muss nun vor allem Frauen gewinnen und Wähler, die von der Regierung enttäuscht sind." Denn dass kaum Reformen seit 2023 umgesetzt wurden, sei nicht nur präsidialen Vetos geschuldet.

Oft seien wegen Differenzen in der Regierungskoalition Gesetze gar nicht erst eingebracht worden. "Sie hätten mehr versuchen sollen, gerade für die jungen Leute, damit sie sehen, dass sich etwas bewegt", sagt Mieńkowska-Norkiene. "Die Leute wollen sehen, dass sich sichtbar etwas verändert." Das sei für die Demokratie in Polen noch wichtiger, als Hassrede und Lüge vor Gericht zu bringen.

Wenn es nach den Vor-Wahl-Demos in Warschau geht, könnte es knapp reichen: Zu Traszkowskis "Marsch der Patrioten" kamen bis zu 160.000 Personen, zu Nawrockis "Marsch für Polen" 150.000.

Über die Gespärchspartnerin

  • Dr. Renata Mieńkowska-Norkiene ist Assistenzprofessorin für Politikwissenschaft und Internationale Studien an der Universität Warschau. Ihre Schwerpunkte liegen auf der Politik und den Institutionen der Europäischen Union sowie der politischen Kommunikation in Polen.

Verwendete Quellen