Die coronabedingte Fussballpause bringt die Möglichkeit mit sich, einen genaueren Blick auf das Regelwerk zu werfen. Unser Autor bildet seit mehr als 20 Jahren Schiedsrichter aus und coacht sie auch auf DFB-Ebene. Während der Ball ruht, wird er sich mit einigen Regeln näher beschäftigen. Heute geht es um den Video-Assistenten.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Alex Feuerherdt dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Auch im dritten Jahr nach ihrer Einführung in der Bundesliga stehen die Video-Assistenten (VAR) immer wieder in der Diskussion. Das liegt zweifellos an manchem Fehler und mancher Ungereimtheit – aber auch daran, dass viele Fussballinteressierte nicht hinreichend mit den Befugnissen und Pflichten sowie mit den damit zusammenhängenden, teilweise komplexen Regularien und Abläufen vertraut sind. Deshalb sollen an dieser Stelle einige der wichtigsten Fragen beantwortet werden.

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Welche Funktion hat der Video-Assistent?

Der VAR ist, wie sein Name schon sagt, ein Assistent des Unparteiischen, wie es auch diejenigen an den Seitenlinien sind. Er ist also kein "Oberschiedsrichter" und kann den Referee auf dem Feld deshalb auch nicht überstimmen, sondern ihm in klar festgelegten Situationen – siehe unten – lediglich empfehlen, eine Entscheidung zu ändern. Das letzte Wort hat nach wie vor stets ausschliesslich der Schiedsrichter.

Anders als die Schiedsrichter-Assistenten wird der VAR allerdings erst tätig, nachdem der Unparteiische eine Entscheidung getroffen hat. Er fungiert also als eine Art "Airbag". Umgekehrt heisst das: Der Referee darf nicht auf eine Entscheidung verzichten und erst einmal abwarten, ob sich der Video-Assistent meldet.

Welche Situationen überprüft der Video-Assistent?

Der VAR verfolgt das Spiel auf mehreren Monitoren und überprüft unaufgefordert die Bilder, wenn eines der folgenden vier Ereignisse eintritt:

  • Der Schiedsrichter erkennt auf Tor – oder entscheidet, dass ein Treffer nicht oder auf irreguläre Weise erzielt wurde.
  • Der Schiedsrichter verhängt einen Strafstoss – oder lässt das Spiel in einer möglicherweise strafstosswürdigen Situation weiterlaufen.
  • Der Schiedsrichter zeigt einem Spieler die Rote Karte – oder entscheidet in einer möglicherweise feldverweiswürdigen Situation, nur die Gelbe Karte, die Gelb-Rote Karte oder gar keine Karte zu zeigen.
  • Der Schiedsrichter verwechselt beim Zeigen einer Karte die Spieler, das heisst, er zeigt dem Falschen Gelb, Gelb-Rot oder Rot.

Wenn der Unparteiische dagegen auf Freistoss, Eckstoss, Einwurf oder Abstoss erkennt, überprüft der Video-Assistent die betreffende Entscheidung nicht. Das gilt auch dann, wenn sie eindeutig falsch ist und anschliessend ein Tor fällt.

Ganz bewusst haben die Regelhüter vom International Football Association Board (IFAB) hier eine Grenze gesetzt: Um zu vermeiden, dass das Spiel (zu) häufig wegen Überprüfungen unterbrochen ist, soll der VAR nur Entscheidungen mit potenziell spielveränderndem Charakter kontrollieren.

Zwar kann natürlich auch ein unberechtigter Freistoss oder Eckstoss zu einem Tor führen. Doch wollte man das verhindern, müsste ausnahmslos jede dieser Entscheidungen überprüft werden – und zwar vor der entsprechenden Spielfortsetzung. Denn nach ihrer Ausführung ist eine Änderung der Entscheidung laut Regelwerk nicht mehr möglich.

In den vier genannten Situationen findet automatisch eine Überprüfung durch den VAR statt. Ein Reportersatz wie etwa "Das Tor wurde nicht überprüft" ist daher falsch. Wenn es nicht zu einem Eingriff des Video-Assistenten kommt, dann deshalb, weil dieser nach der Überprüfung keinen Anlass dazu gesehen hat.

Wann greift der Video-Assistent ein?

Dass der VAR interveniert, wenn der Schiedsrichter in einer der erwähnten vier Situationen eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung getroffen hat, hat sich inzwischen herumgesprochen.

Immer noch weniger bekannt dürfte es dagegen sein, dass ein Eingriff auch dann erfolgen muss, wenn der Unparteiische in diesen Situationen einen schwerwiegenden Vorfall verpasst hat. Dass dazu etwa die klassische Tätlichkeit hinter dem Rücken des Schiedsrichters zählt, versteht sich von selbst.

Doch gemeint sind auch Vorfälle, die sich zwar im Blickfeld des Unparteiischen abgespielt haben, von diesem aber trotzdem übersehen worden sind. Etwa, weil er sich bei einem Zweikampf im Strafraum auf die Oberkörper konzentriert und deshalb nicht bemerkt hat, dass es im Fussbereich zu einem strafbaren Kontakt gekommen ist.

Oder, weil seine Sicht durch einen vor ihm befindlichen Spieler beeinträchtigt worden und ihm so ein unzweifelhaft ahndungswürdiges Handspiel im Strafraum entgangen ist.

Bei einem klaren und offensichtlichen Fehler liegt also eine falsche Wahrnehmung des Schiedsrichters vor, bei einem schwerwiegenden übersehenen Vorfall dagegen eine fehlende Wahrnehmung. Im erstgenannten Fall hat der Referee eine Situation erfasst und bewertet, im letztgenannten nicht oder nur teilweise.

Wie sich die Wahrnehmung des Unparteiischen darstellt, muss dieser gegenüber dem VAR kommunizieren. Der Video-Assistent entscheidet dann auf der Grundlage der Bilder, ob ein Eingriff erforderlich oder unnötig ist.

Wann schaut sich der Schiedsrichter eine Szene selbst am Monitor an?

Grundsätzlich wird zwischen Checks und On-Field-Reviews unterschieden. Unter einem Check, zu dem es in einem Bundesligaspiel durchschnittlich siebenmal kommt, versteht man die Sichtung der Bilder in einer überprüfbaren Situation durch den VAR.

Ein On-Field-Review (kommt im Schnitt alle drei Spiele von) ist die Überprüfung einer Szene durch den Schiedsrichter auf dem Monitor am Spielfeldrand in der sogenannten Review Area.

Liegt nach Ansicht des VAR ein klarer und offensichtlicher Fehler oder ein schwerwiegender übersehener Vorfall bei einer subjektiven Entscheidung vor, empfiehlt er dem Unparteiischen einen solchen On-Field-Review.

Nach dem Review kann der Schiedsrichter seine ursprüngliche Entscheidung ändern. Er kann sie aber auch beibehalten, wenn er davon überzeugt ist, dass sie sich vertreten lässt. Bei faktischen Entscheidungen dagegen übernimmt der Referee im Falle eines Fehlers das Urteil des Video-Assistenten, ohne sich die Bilder selbst anzusehen.

Zu den subjektiven Entscheidungen zählen alle, bei denen ein Graubereich, also ein Ermessensspielraum existiert und dementsprechend eine Bewertung der Bilder vorgenommen werden muss. Das ist vor allem bei potenziellen Foulspielen, Handspielen und Roten Karten der Fall.

Bei faktischen Entscheidungen hingegen gibt es regeltechnisch nur Schwarz und Weiss. Dazu zählen etwa die Fragen, ob sich ein Spieler in einer Abseitsposition befindet, ob der Ball eine Begrenzungslinie überschritten hat und ob sich ein Vergehen innerhalb oder ausserhalb des Strafraums ereignet hat.

Da es bei diesen Fragen normalerweise keine verschiedenen Meinungen gibt, genügt die Einschätzung des VAR. So lässt sich Zeit sparen. Zu Ausnahmen kommt es bei Messungenauigkeiten, Unschärfen im Bildmaterial oder wenn keine Kamera ein klares Ergebnis liefert.

Welchen Zeitraum überprüft der Video-Assistent?

Wenn es um ein Tor, einen (möglichen) Strafstoss oder eine (mögliche) Rote Karte wegen der Verhinderung einer offensichtlichen Torchance, also einer "Notbremse" geht, überprüft der VAR die gesamte letzte Angriffsphase, die im betreffenden Ereignis mündete.

Stellt sich dabei heraus, dass der Ball zwischenzeitlich aus dem Spiel war oder der Schiedsrichter einen Verstoss des angreifenden Teams nicht geahndet hat, folgt ein Eingriff. Ein solcher Verstoss kann zum Beispiel ein strafbares Abseits sein, ein Foulspiel oder ein ahndungswürdiges Handspiel.

Die Angriffsphase ist dabei nicht zwangsläufig mit der gesamten vorangegangenen Ballbesitzphase der angreifenden Mannschaft identisch. Gleichzeitig wird sie nicht automatisch durch einen Ballkontakt des verteidigenden Teams beendet.

Mit dem Begriff Angriffsphase wird vielmehr jener Spielzug bezeichnet, der ohne grössere Umwege und Verzögerungen – sowie ohne eindeutige Klärung des Balles und ohne eindeutige Ballkontrolle durch den Gegner – zum Tor, zum Strafstoss oder zur Roten Karte wegen der Verhinderung einer offensichtlichen Torchance geführt hat.

Der Beginn der Angriffsphase, bis zu dem die Überprüfung durch den VAR zurückreicht, kann beispielsweise eine Spielfortsetzung sein – wobei deren Berechtigung selbst nicht geprüft wird –, eine Balleroberung, ein Ballgewinn infolge eines Fehlpasses des Gegners oder jener Moment, in dem aus einem ziellosen Ballgeschiebe plötzlich ein zielgerichteter, direkter Angriff auf das Tor wird.

Ein Quer- oder Rückpass bedeutet nicht notwendig das Ende der Angriffsphase, solange die Gesamtbewegung weiterhin auf das Tor ausgerichtet ist und kein Neuaufbau stattfindet. Dass es bei der Feststellung, wann eine Angriffsphase beginnt, einen Ermessensspielraum geben kann, liegt in der Natur der Sache.

Bei Roten Karten etwa für eine Tätlichkeit oder ein brutales Foulspiel und bei einer Spielerverwechslung im Zuge einer persönlichen Strafe wird dagegen nur das Ereignis selbst überprüft und nicht auch die vorangegangene Angriffsphase.

Denn wer die Gesundheit eines Gegners gefährdet oder tätlich wird, muss immer mit einem Feldverweis bestraft werden. Auch dann, wenn es ohne die vorangegangene, ungeahndete Regelübertretung des gegnerische Teams gar nicht erst zu diesem Vorfall gekommen wäre.

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