Laut dem neuesten DFB-Lagebild gibt es weniger Gewalt und Diskriminierung im Amateurfussball. Doch darin finden sich zahlreiche Unstimmigkeiten. Wir werfen einen Blick hinter die nackten Zahlen.
Blutige Schlägereien, tätliche Angriffe auf Schiedsrichter, Jagdszenen auf dem Sportplatz oder Beleidigungen und Diskriminierungen: Wenn Gewalt im Amateurfussball in die Schlagzeilen rückt, sind es meist die extremen Fälle. Der Eindruck: Auf deutschen Fussballplätzen herrscht regelmässig Ausnahmezustand. Die aktuelle Statistik des DFB zeichnet allerdings ein anderes Bild.
In der Saison 2024/2025 wurden laut dem sogenannten Lagebild Amateurfussball bundesweit 829 gewalt- oder diskriminierungsbedingte Spielabbrüche registriert, das sind neun Prozent weniger als im Vorjahr, zudem ist es der niedrigste Wert seit Ende der Corona-Pandemie.
Bezogen auf die insgesamt 1,286 Millionen ausgetragenen Partien bedeutet das: Nur 0,06 Prozent aller Spiele wurden tatsächlich abgebrochen. Ebenfalls erfreulich: Auch der Anteil der Partien mit gemeldeten Gewalt- oder Diskriminierungsvorkommnissen ist im Vergleich zum Vorjahr gesunken, von 0,45 auf 0,43 Prozent.
DFB verkauft Rückgang als positive Entwicklung
"Die Richtung stimmt, die Anzahl der Vorfälle sinkt weiterhin, leider nur in kleinen Schritten", sagte DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann laut DFB-Website. Weil es langsamer vorangeht als gewünscht, "dürfen wir alle im Fussball in unserem Wirken nicht nachlassen, um für einen respektvollen und freundlichen Umgang auf und neben dem Platz zu sorgen". Der DFB feiert den Rückgang nicht, verkauft ihn aber als positive Entwicklung.
Und das ist nicht ganz unproblematisch, wie Kriminologin Thaya Vester von der Uni Tübingen im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt. Die Zahlen zu den Spielabbrüchen seien belastbar, sagte sie, allerdings ist das Lagebild zum Gesamtaufkommen von Gewalt und Diskriminierung "nicht seriös zu verwenden. Man kann damit keine verlässlichen Aussagen machen", sagt Vester, die seit Jahren zum Thema Gewalt im Fussball forscht.
Zahlreiche Fehlerfaktoren bei der Erfassung
Das schiefe Bild hat gleich mehrere Gründe. Zum einen liegt es an der Datengrundlage. Denn die Spiele werden in der Regel elektronisch erfasst, allerdings längst nicht alle. Etwas mehr als zehn Prozent der Partien fehlen aus diversen Gründen und sind damit statistisch in dem Lagebild nicht sichtbar. Auch die Form der Abfrage spielt eine Rolle, denn die ist extrem oberflächlich. Es wird nämlich zum Beispiel nur abgefragt: Gewalt ja oder nein. Ob ein Vorfall oder fünf, ob zwei oder 22 Spieler beteiligt waren – das bleibt völlig unklar. "Das heisst: Selbst wenn alles korrekt eingetragen wird, geht jede Menge Information verloren", sagt Vester.
Ein weiterer Fehlerfaktor sind die Schiedsrichter selbst, die zum Teil mit den Vorgaben "schlicht überfordert" seien, erklärt die Forscherin, "auch weil sie unsicher sind, ob eine Äusserung eine Beleidigung oder eine Diskriminierung ist. Andere setzen gar keine Häkchen, um nichts falsch zu machen." Oder sie bekommen Vorfälle nicht mit, weil sie nach dem Spiel passieren.
Andere liessen verbale Gewalt von Zuschauern unter den Tisch fallen: "Viele Schiris sind darauf geeicht, so etwas zum einen Ohr rein-, zum anderen Ohr wieder rauszulassen. Das führt zu einer erheblichen Dunkelziffer", betont Vester. "Die Zahlen zeigen eher, wie die Schiris melden – aber nicht, wie viel Gewalt es auf den Plätzen wirklich gibt." Für sie ist klar: "Solange wir diese massiven Einschränkungen kennen, kann man nicht guten Gewissens behaupten, dass Gewalt im Amateurfussball tatsächlich zurückgeht."
DFB-Vorgehen verständlich, aber nicht ungefährlich
Der DFB stellt die Zahlen trotzdem offiziell als Erfolg dar. "Weil es natürlich angenehmer ist, positive Geschichten zu erzählen", sagt Vester. Das ist verständlich, aber nicht ungefährlich. Weil es viele Beteiligte in trügerischer Sicherheit wiegt. "Und langfristig beraubt man sich der Chance, das Problem wirklich zu bekämpfen. Wie soll ich eine wirksame Prävention aufbauen, wenn ich gar nicht weiss, wie gross das Problem ist?"
Es ist allerdings schwierig, ein tatsächliches Ausmass abzuschätzen. Axel Zimmermann, der Chef des Fussballkreises Bochum, schätzt in der "Sportschau", dass es in Wirklichkeit fünf Prozent der Spiele sind, die von Gewalt oder Diskriminierungen betroffen sind. "Es hat sich in Sachen Gewalt im Amateurfussball nichts wirklich verbessert in letzter Zeit."
Zahlen zeigen die Unstimmigkeiten
Vester nennt zwei anschauliche Beispiele dafür, warum das aktuelle Lagebild nicht passen kann. Denn wenn man die offiziellen Zahlen zugrunde legt, müsste man mehr als 500 Spiele im Amateurfussball besuchen, um einmal Zeuge einer Diskriminierung zu werden. Das passt aber nicht zum Erfahrungsschatz an der Basis.
Daneben deuten andere Zahlen darauf hin, dass die vom DFB veröffentlichten Daten nicht stimmig sind. So hat der DFB in seinem Lagebild 3.500 gewaltbelastete Spiele gemeldet. Dagegen stehen laut einer urteilsbasierten Statistik des Landesverbands Württemberg – und das ist nur einer von 21 Landesverbänden – alleine 1.700 Sportgerichts-Aburteilungen wegen Gewalt. "Das zeigt: Schon ein einzelner Landesverband kommt fast auf die Hälfte der bundesweiten Fälle – mit einer anderen Datenquelle", erklärt Vester. Hochgerechnet kommt man somit auf eine Quote von rund zwei Prozent an betroffenen Spielen.
Die grosse Frage lautet also: Wie kommt man an realistischere Zahlen? Was muss sich ändern? "Die Erfassungsqualität muss dringend verbessert werden", sagt Vester. Die Abfragen müssten einfacher und vor allem differenzierter werden, mehr Informationen liefern. Oder man zieht gleich die Urteile der Sportgerichtsbarkeit heran. Auch zusätzliche Kontrollmechanismen könnten helfen, da das bisherige System zu fehleranfällig ist, was sich auch durch kuriose Fälle zeigt. Denn es ist schon passiert, dass Schiedsrichter als Beschuldigte gezählt werden, weil sie sich schlicht verklickt haben. Trotzdem wandern diese Angaben ungeprüft in die Statistik.
Neue Regeln helfen bei der Prävention
Es ist aber nicht alles schlecht oder negativ. Denn grundsätzlich stellt Vester dem DFB bei der Prävention ein gutes Zeugnis aus. So seien die Einführung der Kapitänsregel (er kommuniziert alleine mit dem Schiedsrichter) und des Stopp-Konzepts (Spielunterbrechung zur Beruhigung der Spieler) vor der vergangenen Saison richtige Schritte gewesen, sagt die Kriminologin. Aber: "Diese Massnahmen müssen ständig geschult und wiederholt werden."
Denn Befragungen zeigen, dass viele Spieler die Inhalte des Stopp-Konzepts gar nicht kennen. Und auch die Kapitänsregel ist noch nicht überall verinnerlicht. Viele missachten sie unbewusst, weil es jahrelang anders war. Vester sieht einen weiteren Hebel: Bildung. "Sehr viele Konflikte entstehen aus Regelunkenntnis. Viele meinen, mit dem Abseits hätten sie das Regelwerk verstanden. Dabei geht es weit darüber hinaus."
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Weitere Massnahmen sind erforderlich
Ihre Forderung: "Spieler müssen sich intensiver mit dem Regelwerk auseinandersetzen. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn zumindest die Kapitäne eine verpflichtende Regelschulung bekämen", sagt Vester. Denn sie hätten eine Sonderrolle, daher solle man auch erwarten, "dass sie die Regeln wirklich kennen und das nachweisen".
Auch Fairnessregeln müssten stärker kommuniziert werden. Stichwort: problematische Eltern, die am Spielfeldrand schimpfen. "Aber wer erklärt ihnen denn, wie man sich verhalten soll? Deshalb müssen auch Vereine Verantwortung übernehmen, nicht nur die Verbände. Gewaltprävention findet am Ende vor Ort statt." Damit die Zahlen weiter sinken – und die extremen Fälle irgendwann ganz aus den Schlagzeilen verschwinden.
Über die Gesprächspartnerin
- Dr. Thaya Vester ist akademische Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen. Ausserdem ist sie Mitglied der DFB-Projektgruppe "Gegen Gewalt gegen Schiedsrichter*innen" sowie der DFB-Expertengruppe "Fair Play – gegen Gewalt und Diskriminierung".