• Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hält Europa in Atem. Boris Johnson positioniert sich als starker Mann an der Seite der Ukraine.
  • Er fordert härtere Sanktionen gegen Russland und hat regelmässigen Kontakt zum ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
  • Wie viel politisches Kalkül steckt hinter Johnsons Vorgehensweise?

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Die russische Invasion und der damit verbundene Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine halten die Welt und im Speziellen Europa in Atem. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und den seitherigen Kämpfen vor allem in Donezk und Luhansk, die Russland mittlerweile als unabhängige Republiken anerkannt hat, haben sich die Kampfhandlungen auf die ganze Ukraine ausgeweitet.

Während die internationalen Organisationen NATO, die UNO und die Europäische Union sich um einen Frieden bemühen, positioniert sich ein Mann, der sein Land aus letzterem Bündnis erst kürzlich hinausführte, als besonders aktiver Akteur in dieser Krise: der britische Premierminister Boris Johnson.

Boris Johnson im Ukraine-Krieg: Skandale scheinen vergessen

Nachdem Corona die Welt die letzten zwei Jahre kaum hat verschnaufen lassen, hat der Krieg in der Ukraine die Pandemie in der medialen Aufmerksamkeitslogik abgelöst. So gerät offenbar auch schnell in Vergessenheit, dass der nun so aktive Boris Johnson während des Corona-Lockdowns in Grossbritannien unerlaubte Partys geduldet und an einigen auch teilgenommen haben soll.

Die Rufe und Forderungen nach seinem Rücktritt verhallten mit Beginn des russischen Angriffs schnell. Der Chef der schottischen Tories, Douglas Ross, der zu Johnsons Partei gehört, sagte unlängst der BBC: "Mitten in einer internationalen Krise ist nicht die Zeit, über Rücktritte zu diskutieren."

Und er fügte hinzu: "Es wird eine Zeit und einen Ort geben, um den ‘Partygate‘ zu debattieren, aber, wie sogar Keir Starmer (Oppositionsführer im britischen Unterhaus; Anm. d. Red.) am Wochenende sagte, sollten wir das auf Eis legen, solange in Europa Krieg herrscht."

Misstrauensvotum gegen Johnson vom Tisch – nächster Skandal droht

Für diese Rücksichtnahme erhält Ross heftige Kritik aus der Opposition. Willie Rennie von den Liberal Democrats warf Ross vor, "das Rückgrat einer Qualle" zu haben. Dennoch ist die Regierungskrise, die die Schlagzeilen der letzten Wochen und Monate dominierte, zunächst beendet.

Gleichsam ist ein drohendes Misstrauensvotum für Johnson erst einmal vom Tisch – jedenfalls mindestens so lange, bis die Polizei ihre Ermittlungen zu den illegalen Partys abgeschlossen hat.

Doch während Johnson sich damit den einen Skandal zumindest vorläufig vom Hals hält, droht ihm bereits neues Ungemach. Der britische Premier steht wegen seiner Beziehung zu Evgeny Lebedev, einem russischen Medienmogul in Grossbritannien, in der Kritik. Ein gefundenes Fressen für die Opposition.

Dabei soll Johnson Warnungen des britischen Geheimdienstes MI6 in Verbindung mit der Verleihung des Adelstitels an Lebedev, der diesen ins britische Oberhaus gebracht hat, ignoriert haben, berichtet die englische Zeitung Sunday Times.

Vor diesem Hintergrund fordert Oppositionsführer Starmer von der Labour-Partei beim Fernsehsender Sky News Aufklärung von Johnson, der "ernste Fragen" zu beantworten habe: "Das ist eine Frage der nationalen Sicherheit. Was wusste der Premierminister und was hat er daraufhin getan?"

Die Freundschaft zwischen Johnson und Lebedev soll schon seit Johnsons Zeit als Bürgermeister von London (Mai 2008 bis Mai 2016) bestehen. Lebedev ist seither eng mit der Tory-Partei verbandelt.

Aufsehen und entsprechende Kritik erregt derzeit auch eine Reise Johnsons nach Italien in Lebedevs Villa. Als Aussenminister hatte er seinem Freund im April 2018 dort einen Besuch abgestattet.

Russischer Oligarch Lebedev bittet Putin, Welt vor Vernichtung zu bewahren

Der Kabinettssekretär und Parteifreund Johnsons, Michael Gove stellt sich derzeit schützend vor seinen Regierungschef und verteidigt ihn gegen die Kritik. Lebendev selbst hat darüber hinaus in der ihm gehörenden Zeitung Evening Standard Position zum Krieg in der Ukraine bezogen und Putin aufgefordert, den Krieg zu beenden.

Lebedev, der sowohl die russische als auch die britische Staatsbürgerschaft besitzt, schreibt dort an Putin gerichtet: "Als britischer Bürger bitte ich Sie, Europa vor dem Krieg zu bewahren. Als russischer Patriot bitte ich Sie, zu verhindern, dass noch mehr junge russische Soldaten unnötig sterben. Als Weltbürger bitte ich Sie, die Welt vor der Vernichtung zu bewahren." In der Vergangenheit hatte sich Lebedev dagegen Kreml-nah gezeigt.

Boris Johnson gibt sich hart: Angriff auf Roman Abramowitsch

Während Grossbritannien aufgrund des Krieges mittlerweile Sanktionen gegen sieben russische Oligarchen, unter anderem dem Eigentümer des Londoner Fussball-Clubs Chelsea, Roman Abramowitsch, erlassen hat, steht Lebedev bislang auf keiner Sanktionsliste – auch nicht auf der der Europäischen Union.

Gegen Abramowitsch positioniert sich die Regierung dagegen besonders hart.

So hatte James Slack, der Sprecher Johnsons, zuletzt sogar gefordert, dass die Fans des Londoner Fussballclubs Chelsea auf anerkennende Fangesänge für Abramowitsch, dem der Club noch gehört, der ihn aber verkaufen will, verzichten sollen.

Johnson und sein Stab arbeiten also emsig an jeder Front. So spricht der Premier auch regelmässig mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Kurz nach dem russischen Angriff auf das Atomkraftwerk in Saporischschja, der die ganze Welt den Atem hat anhalten lassen, hat Selenskyj mit Johnson telefoniert und sich "äusserst besorgt" über die Attacke gezeigt.

Das hatte Johnson beim Interview mit der Welt am Sonntag, El País und La Repubblica in seinem Amtssitz erzählt. Darüber hinaus erklärt Johnson offensiv, Putin habe sich in eine Sackgasse manövriert.

Um einen Ausweg aus dieser Sackgasse und eine gemeinsame Vorgehensweise zu finden, hat der britische Premier nordeuropäische und baltische Länder unlängst zu einem Gipfeltreffen nach London eingeladen. Am Montag (14.03.2022) und Dienstag (15.03.2022) empfing Johnson die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer des Militärbündnisses Joint Expeditionary Force (JEF) zu gemeinsamen Beratungen.

Grossbritannien führt diese Koalition an.

Zur JEF gehören die Nato-Mitgliedsstaaten Niederlande, Litauen, Lettland, Island, Estland, Dänemark und Norwegen, sowie Finnland und Schweden, die keine Mitglieder der Nordatlantikpakt-Organisation sind. Nun wolle man angesichts der Bedrohung durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin, so Johnson laut AFP "über unser militärisches Fundament hinausgehen."

Nach Angaben der Downing-Street soll ein erweitertes Übungsprogramm in der Ostsee, im Nordatlantik und der Arktis beschlossen werden.

Johnson fordert: Es ist wichtig, gegen Putins Tyrannei aufzustehen

Dazu erklärt Johnson: "Die europäische Sicherheit wurde durch den Angriff Russlands auf die Ukraine erschüttert. Zusammen mit unseren Partnern werden wir Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass wir stärker und vereinter daraus hervorgehen."

In einer Videobotschaft an die JEF meldete sich auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Wort und bedankte sich für die Unterstützung. Er forderte aber auch mehr Waffen und härtere Sanktionen gegen Russland.

Johnson bejahte dessen Forderungen und erklärte: "Es ist wichtig, dass wir gegen Putins Tyrannei aufstehen und vermeiden, uns weiter von Putin erpressen zu lassen, wie es leider so viele westliche Länder haben geschehen lassen."

Grossbritannien und Geflüchtete: Bürokratie verhindert Humanität

Doch trotz der Bemühungen Johnsons als Anpacker aufzutreten, steht er aufgrund seiner im europäischen Vergleich restriktiven Flüchtlingspolitik in Bezug auf den Krieg in der Ukraine in der Kritik. Als Deutschland eine gute Woche nach Kriegsbeginn nach Zahlen von Zeit Online bereits 50.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hatte, waren es in Grossbritannien gerade einmal 50 Visa.

Dabei hatte das britische Innenministerium auf Twitter noch verkündet, das "erste Visa-Familien-Programm für die Ukraine in der Welt" aufgelegt zu haben, während die Länder der Europäischen Union und Europas bereits Millionen von Geflüchteten aus der Ukraine aufgenommen hatten – ganz unbürokratisch ohne Visa.

Wer als Ukrainer Familie in Grossbritannien hat, muss einen Online-Antrag aus dem Ausland stellen und es muss dabei nachgewiesen werden, dass der jeweilige Flüchtende auch wirklich Staatsbürger der Ukraine ist, Familie in Grossbritannien hat und er muss belegen, wo er in der Ukraine gelebt hat. Das alles ist laut der korrespondierenden Website durch entsprechende Dokumente zu beweisen.

Eine unbürokratische Lösung, die vielen Menschen helfen würde, bestünde darin, auf Visa zu verzichten. Doch das lehnt Boris Johnson ab. Das Vereinigte Königreich werde die Kontrollen nicht "völlig aufgeben", so der Premier zur BBC.

Es sei vernünftig, "einige grundlegende Möglichkeiten zu haben, um zu überprüfen, wer ins Land kommt und wer nicht."

Am Sonntag (13.03.2022) kündigte die Regierung dann das Programm "Ein Zuhause für die Ukraine" zur Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge an. Durch dieses sollen Geflüchtete in britischen Privathaushalten unterkommen – für bis zu drei Jahre bei Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Gesundheits- und Bildungswesen, wie es auf der zugehörigen Website heisst.

Boris Johnson reist nach Riad: Energiepolitik in Saudi-Arabien

Neben der öffentlich umstrittenen Problematik um die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge und seiner Rolle an der Seite des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, will sich Johnson beim saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman für die Erhöhung der Ölproduktion einsetzen.

Damit sollen die Konsequenzen des angekündigten Energieembargos gegen Russland abgemildert werden. Wie die Londoner Times berichtet, sehen Quellen innerhalb der Regierung die Chancen für ein Entgegenkommen Saudi-Arabiens aber als gering an.

Einen aussenpolitischen Erfolg in Saudi-Arabien könnte Johnson innenpolitisch nutzen, um so zu einem Aufwärtstrend in Umfragen beizutragen, den der britische Premier so bitter nötig hat.

Der Skandal um die mutmasslich illegalen Corona-Partys ist zwar angesichts des Kriegs in der Ukraine zunächst vergessen, doch nach wie vor wollen über die Hälfte der Wählerinnen und Wähler Johnsons Rücktritt. Das geht aus einer Opinium Umfrage hervor.

Boris Johnson in Meinungsumfragen: Schafft er nun die Wende?

53 Prozent sind demnach für einen Rücktritt des Premierministers, wobei 52 Prozent finden, die Regierung tue nicht genug für die Aufnahme Geflüchteter. Das wird Johnson nicht gefallen. Der Trend hingegen schon: Im Januar lag sein Ablehnungswert noch zehn Prozentpunkte höher, wie der britische Guardian berichtet.

Und auch Johnsons allgemeine Zustimmungsrate ist im Aufwind begriffen: Mittlerweile sind 27 Prozent der Befragten mit Johnsons Politik einverstanden, während es zwei Wochen zuvor noch nur 21 Prozent waren.

Der Meinungsforscher Joe Curran von Opinium erklärt dazu dem Guardian: "Was Boris Johnson betrifft, würde ein Zyniker sagen, dass die Krise in der Ukraine sowohl eine Ablenkung von innenpolitischen Kontroversen bietet als auch die Gelegenheit, den Staatsmann zu spielen. In der Tat sind seine Zustimmungswerte leicht gestiegen, obwohl wir nicht mit Sicherheit sagen können, dass dies mit dem Krieg im Osten zusammenhängt. Ob dieser Trend anhält, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von der sich verschärfenden Krise bei den Lebenshaltungskosten."

Verwendete Quellen:

  • AFP
  • bbc.com: Douglas Ross: Removing PM would only benefit Putin
  • gov.uk: Apply for a Ukraine Family Scheme visa
  • homesforukraine.campaign.gov.uk: Homes for Ukraine
  • news.sky.com: Michael Gove defends Boris Johnson meeting oligarch Evgeny Lebedev who MI6 had concerns about
  • theguardian.com: More than half of UK voters still think Boris Johnson should resign
  • thetimes.co.uk: Boris Johnson’s Saudi oil trip has slim chance of immediate success
  • thetimes.co.uk: How Boris Johnson’s friendship with Evgeny Lebedev deepened despite MI6 concerns
  • welt.de: "Putin wird jetzt noch härter zuschlagen"
  • zeit.de: "Boris Johnsons feindliche Atmosphäre"
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