Die deutsche U21 hat sich nach einer beeindruckenden Gruppenphase wohl endgültig zum Titelfavoriten bei der EM gemausert. Vor allem ein bereits bewährtes Geheimrezept funktioniert wieder bestens und zeichnet die Mannschaft aus. Jetzt geht es gegen Italien.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Antonio Di Salvo liess sich nicht in die Falle locken. Die deutsche U21 holte als einziges Team bei der EM in der Slowakei drei Siege in der Gruppenphase. Bei 9:3 Toren hat der DFB-Nachwuchs mehrere sportliche Ausrufezeichen gesetzt. Der erste Reflex auf die Feststellung, Deutschland sei jetzt der Top-Favorit, wäre ein klares "Ja". Doch der Trainer wollte diese ultimative Favoritenrolle nicht so recht annehmen.

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"Na, das weiss ich nicht", sagte er nach dem 2:1 zum Abschluss der Gruppenphase gegen Titelverteidiger und Mitfavorit England in Sat.1. "Fakt ist, dass sich alle Top-Nationen qualifiziert haben. Daran sieht man, auf welchem Level wir sind. Und jetzt kommen nur noch Hammer-Spiele. Das nächste ist gegen Italien." Die "Azzurrini" sind am Sonntag (21 Uhr/Sat.1) der Viertelfinal-Gegner. Drei weitere Siege also noch, und der vierte Titel nach 2009, 2017 und 2021 wäre dem DFB-Nachwuchs sicher.

DFB-Team: Seit fast zwei Jahren ungeschlagen

Dabei ist die Rolle als Top-Favorit inzwischen gerechtfertigt. Das motivierte und ambitionierte Team konnte bei den drei Auftritten die meiste Zeit überzeugen. Dabei zeigte sich die Mannschaft reif, kreativ und variabel in der Spielanlage, aggressiv in der Zweikampfführung und ausgestattet mit einer beeindruckenden Mentalität. Es gibt diverse, sehr gute Gründe, warum die Auswahl seit nunmehr fast zwei Jahren ungeschlagen ist und erstmals als deutsche Mannschaft mit weisser Weste durch die Gruppenphase einer EM gestürmt ist.

Einer davon ist Shootingstar Nick Woltemade, der seinen sportlichen Aufstieg auch bei dem Turnier unbeirrt fortsetzt. Mit vier Treffern und zwei Assists war er der Mann der ersten bei-den Spiele, und dies trotz seines strammen Programms in den vergangenen Wochen.
"Er verändert unser Spiel, und deswegen bin ich froh, dass er mit so viel Energie zu uns ge-kommen ist und dass er Bock hat, Fussball zu spielen, Bock hat, mit uns gemeinsam erfolg-reich zu sein", sagte Di Salvo. Und Sturmkollege Nicolo Tresoldi lobte: "Er ist der perfekte Sturmpartner für mich. Er macht die Bälle fest und kann Fussball spielen."

Es geht sogar ohne Woltemade

Was die Konkurrenz zum Nachdenken bringen wird: Es geht sogar ohne Woltemade, der leicht angeschlagen Di Salvo darum bat, gegen England auf ihn zu verzichten. "Da sieht man mal, wie die Mannschaft und auch Nick tickt. Dass er es auch den anderen gönnt und dass er nicht im Vordergrund stehen möchte – sondern der Teamerfolg das Wichtigste ist", sagte Di Salvo. Er hatte im letzten Spiel gegen England sogar die Mega-Rotation angeworfen und die Mannschaft auf elf (!) Positionen verändert.

Einen Qualitätsverlust konnte man nicht erkennen, erst in der Schlussphase wurde es wackelig. Doch wenn es spielerisch hakt, wirft die U21 kämpferische Komponenten auf den Platz. Trotzdem hat sich die Defensive als wunder Punkt herauskristallisiert. Konzentrationsschwächen oder individuelle Unzulänglichkeiten, die es in der Gruppenphase zwischendurch gab, können in der K.o.-Runde teuer werden.

Wichtig wäre es, an der Stelle noch mehr Stabilität zu finden. Denn nicht nur der kommende Gegner Italien, auch die weiteren Viertelfinalisten Portugal, Niederlande, Spanien, Dänemark und Frankreich sind andere Kaliber als die Gruppengegner Tschechien oder Slowenien. Und auch England hat deutlich mehr Potenzial als die vier geholten Punkte vermuten lassen. Es hört sich abgedroschen an, doch die Karten werden jetzt ein Stück weit neu gemischt.

Enorme Breite kann entscheidend sein

Di Salvo ist mit der Gruppenphase trotzdem hochzufrieden, weil gegen England natürlich das Risiko bestand, den Gruppensieg zu verspielen und einen Rückschlag einzustecken. Doch das Team bleibt im Rhythmus. "Die ganze Mannschaft war fleissig und sie wollten unbedingt das Tor verteidigen", sagte Di Salvo. "Das habe ich auch verlangt von der Mannschaft, dass sie beissen, dass sie einfach alles reinwerfen, dass sie sich empfehlen. Das haben sie getan."

Di Salvo kann daher nicht nur auf Topstar Woltemade zählen, sondern auch auf Kapitän Eric Martel, Mittelfeldmotor Rocco Reitz, Kreativkopf Paul Nebel und Stürmer Tresoldi. Hinzu kommt die vermeintlich zweite Reihe um Ansgar Knauff, Paul Wanner oder Nelson Weiper, die der ersten in nichts nachsteht. Das kann im weiteren Verlauf, wenn auch die Kräfte eine Rolle spielen, zu einem echten Pfund werden.

Der Teamgeist ist der Titelfaktor

Denn Di Salvo hat nach dem blutleeren und enttäuschenden Vorrunden-Aus 2023 einen Draht zu diesem Kader gefunden. Knauff gab er vor dem England-Spiel mit auf den Weg, "dass er jetzt den Modus anschmeissen muss, den wir von ihm kennen. Das ist der Eintracht-Modus, den er auch in Frankfurt hat. Da habe ich ihn dran erinnert", sagte Di Salvo. Knauff warf ihn an, traf selbst und bereitete das zweite Tor vor.

Was aber den grössten Ausschlag für den Erfolg gibt, ist der Zusammenhalt, der in diesen Tagen viel zitierte Teamgeist. Den hatte Di Salvos Vorgänger Stefan Kuntz bei den Titelgewinnen 2017 und 2021 sowie beim zweiten Platz 2019 entfachen und zum echten Titelfaktor machen können.

Di Salvo ist das in der Slowakei ebenfalls gelungen. "Die Mannschaft ist ein Team. Das ist die grosse Stärke dieser Mannschaft in diesem Jahr", sagte er. Und DFB-Sportdirektor Rudi Völler bestätigte ebenfalls: "Es herrscht ein toller Teamspirit in der Mannschaft." Der soll Deutschland weiter durch das Turnier tragen. Nach dieser Vorrunde als Top-Favorit auch wenn Di Salvo das nicht hören will.