Timo Boll hat noch zwei Titel im Blick, dann hört der 44-Jährige endgültig auf. Wir haben uns vorher mit ihm über diverse Facetten seiner Karriere unterhalten.

Ein Interview

Timo Boll hat das deutsche Tischtennis über 20 Jahre lang geprägt. Nach dieser Saison ist Schluss. Allerdings will sich der 44-Jährige standesgemäss verabschieden: Mit Borussia Düsseldorf kann er noch Meister werden und die Champions League gewinnen. Im Interview spricht er über seine Pläne, die Probleme der Sportart und seine enorme Popularität in China. Dazu verrät er, warum er weder Trainer noch Funktionär werden möchte.

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Timo Boll, was machen Sie am 16. Juni morgens beim Frühstück?

Timo Boll: (lacht) Hoffentlich erhole ich mich dann ein bisschen von der Meisterfeier. Das wäre natürlich der Optimalfall. Das Final4 in der Champions League steht vorher auch noch an. Das könnte alles ein toller Abschluss werden. Wobei das letzte Heimspiel in Düsseldorf bereits unglaublich war. Nach so langer Zeit denkt man eigentlich, man ist abgezockter. Aber ich habe während des Spiels Gänsehaut gehabt.

Haben Sie schon konkrete Pläne für die Zeit danach?

Konkret noch nicht. Danach stehen erstmal noch ein paar Ehrungen an. Ich werde selbst noch eine Abschiedsfeier organisieren – für meine Weggefährten, Freunde, Familie. Und danach, denke ich, ist dann wirklich erst mal für einige Wochen Schluss. Dann geht es nur um die Familie. Die musste sehr lange zurückstecken. Und dann gibt es zum Glück grossartige Partner, die mir auch nach Karriereende treu bleiben und für die einige Termine anstehen.

Das Wohnmobil wartet schon

Ist das Wohnmobil also schon einsatzbereit?

(lacht) Ja, wir werden in den Ferien meiner Tochter damit verreisen. Das Wohnmobil war in den letzten Jahren quasi mein zweites Zuhause. Es war jedes Jahr über 100 Tage im Einsatz – immer, wenn ich in Düsseldorf war oder auch bei Turnieren. Jetzt muss ich mich erstmal daran gewöhnen, das Wohnmobil nur noch für den Urlaub zu nutzen.

Stimmt es, dass die Idee mit dem Wohnmobil ursprünglich von Ihrer Frau kam?

Vor einigen Jahren hatte ich mir eine neue Wohnung in Düsseldorf gekauft. Gleichzeitig haben wir uns ein Wohnmobil zugelegt. Weil das Wohnmobil sonst meistens nur rumgestanden hätte und ich sowieso oft allein in Düsseldorf war, meinte meine Frau: 'Warum nimmst du nicht einfach das Wohnmobil und wir vermieten die Wohnung?' Ich habe es nie bereut. Ich hatte dadurch alles direkt vor Ort. Das war gerade in den letzten Jahren, wo der Körper mehr Pflege brauchte, extrem wichtig. Die paar Prozent Energie, die ich sparen konnte, habe ich am Tisch investiert.

"Das zehrt auch am eigenen Ego"

Wie schwer waren die letzten Jahre denn körperlich für Sie?

Es war ständig irgendwas. Man merkt, dass man nicht mehr so beweglich ist. Man muss vieles kompensieren – technisch, taktisch, mental. Ich musste viel mehr planen und vorbereiten, was im Ballwechsel passiert. Früher ging vieles aus der Intuition heraus, jetzt musste alles stimmen, damit ich auf Top-Niveau mithalten konnte. Zuletzt ist mir das immer seltener gelungen. Und das zehrt auch am eigenen Ego und an den hohen Ansprüchen, die ich an mich selbst stelle.

Haben diese körperlichen Herausforderungen die Entscheidung zum Karriereende erleichtert?

Ja, auf jeden Fall. Irgendwann rückte die Entscheidung immer näher – und dann war sie auch ganz klar. Und es war tatsächlich einfacher als gedacht. Ich war mit mir im Reinen, als ich die Entscheidung getroffen habe. Und das war ein gutes Gefühl.

Haben Sie trotzdem ein bisschen Bammel vor dem letzten Tag? Oder überwiegt die Erleichterung, dass es bald geschafft ist?

Beides, ehrlich gesagt. Es gibt Tage, da fühle ich mich noch richtig gut, trainiere stark, bin beweglich – dann wird man wehmütig und denkt: 'Vielleicht ginge es doch noch ein bisschen weiter.‘ Aber dann gibt es auch diese fiesen Tage, an denen man morgens stocksteif aufsteht, es überall zwickt und zwackt, und man sich denkt: 'Lass‘ es bitte bald vorbei sein.' Insgesamt war das letzte Jahr unglaublich schön, aber auch viel anstrengender, als ich es mir vorgestellt hatte.

Besteht die Gefahr, dass Sie nach dem Ende in ein Loch fallen? Oder sogar auch der deutsche Tischtennissport?

Ich glaube nicht. International bin ich schon seit einem Jahr nicht mehr aktiv, und die Welt dreht sich weiter. So war es auch bei Jörg Rosskopf – danach ging es mit mir weiter, und jetzt übernehmen eben die Jüngeren. Auch für mich persönlich sehe ich kein Loch, auch wenn ich das Ende erstmal erleben muss. Ich habe Partnerschaften und Projekte, die mich die nächsten Jahre begleiten werden. Dazu möchte ich Neues ausprobieren, Praktika machen, Erfahrungen sammeln. Ich will aktiv bleiben, aber in einem anderen Rhythmus.

Boll wird die Gemeinschaft vermissen

Was werden Sie am meisten vermissen?

Vor allem die Gemeinschaft. Das Miteinander auf Reisen, im Team, die Freundschaften – das war immer etwas ganz Besonderes. Natürlich werde ich versuchen, den Kontakt zu vielen aufrechtzuerhalten, aber es wird nie mehr so sein wie im aktiven Sport, wo man sich jeden Tag gegenseitig Sprüche um die Ohren haut und zusammen durch Höhen und Tiefen geht.

Werden Sie den Kollegen fehlen – oder sind die vielleicht auch ein bisschen froh, dass Ihr grosser Schatten endlich verschwindet?

(Lacht) Natürlich habe ich viel Aufmerksamkeit auf mich gezogen und dadurch vielleicht auch ein bisschen Druck von den anderen genommen. Jetzt kommt mehr Verantwortung auf sie zu, aber sie haben auch mehr Möglichkeiten, sich selbst zu präsentieren. Ich glaube, in manchen Situationen werden sie sagen: ‚Ach, jetzt wäre ein Timo ganz hilfreich.‘ Aber ich bin sicher, dass sie die Chance auch gut nutzen werden.

Sie können den Jungs auf jeden Fall erklären, wie man eine halbe Ewigkeit in der Weltspitze unterwegs sein kann. Wie haben Sie das geschafft?

Ich merke jetzt aus eigener Perspektive, wie schwierig das ist. Gerade im letzten Jahr habe ich ein bisschen nachgelassen, was meine Akribie angeht. Nicht, weil ich es wollte, sondern weil einfach irgendwann die Energie fehlt. Früher war das anders: Da gab es keinen Tag, an dem ich keinen Sport gemacht habe. Egal ob Reisetag oder Urlaub – eine Athletik-Einheit gehörte immer dazu. Es gehörte einfach dazu, und hätte ich es mal nicht gemacht, hätte ich sofort ein schlechtes Gewissen gehabt.

Und heute?

Heute investiere ich vielleicht 20 Prozent weniger – verliere aber gefühlt 40 Prozent an Leistung. Disziplin, tägliche Arbeit und eine analytische Herangehensweise sind der Schlüssel. Heute liegt das Niveau so eng beieinander, da darf man sich keinen Schlendrian erlauben. Trotzdem braucht man eine Balance: Es bringt nichts, zwölf Stunden am Tag in der Halle zu stehen, wenn man müde ist und ineffektiv trainiert. Die wahre Kunst ist es, das persönliche Limit zu finden – genau an der Schwelle zwischen produktiver Belastung und Übertraining.

Deshalb stand er nie unter einem übermässigen Druck

Haben Sie es in der Zeit als Belastung empfunden, eine ganze Sportart mitzutragen?

Eigentlich nicht. Natürlich hatte ich einen hohen eigenen Ehrgeiz. Aber ich hatte immer eine gute Einstellung: Für mich war nie allein das Ergebnis entscheidend. Es ging immer darum, ob ich mich gut vorbereitet hatte, ob ich im Spiel wirklich alles gegeben habe. Wenn ich alles rausgeholt habe, konnte ich auch eine Niederlage akzeptieren. Vielleicht hat mir genau diese Einstellung geholfen, nie unter einem übermässigen Druck zu stehen.

Eine junge Spielerin wie Annett Kaufmann hat in einem Interview mit uns verraten, es sei überraschend schwer, Sponsoren zu finden – selbst nach einem guten Auftritt bei Olympia. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, das kann ich nachvollziehen – aber ich glaube, sie geht da vielleicht mit etwas falschen Erwartungen rein. Rund um Platz 100 der Welt kann man nicht erwarten, dass Sponsoren Schlange stehen, nur weil man ein starkes Turnier spielt. Ich selbst war die Nummer eins und hatte lange keinen grossen Sponsor. In einer Randsportart wie Tischtennis funktioniert es nicht wie im Fussball oder Tennis, wo ein Senkrechtstarter sofort von Werbepartnern überhäuft werden kann. Im Tischtennis musst du über einen langen Zeitraum konstant Leistungen bringen, um es in die Köpfe der Deutschen zu schaffen, dass da jemand ist, der ganz gut ist.

Trauen Sie ihr zu, ein neues Aushängeschild für den deutschen Tischtennis-Sport zu werden?

Sie ist auf jeden Fall ein sehr interessanter Typ. Jetzt muss sie ihre Leistung noch weiter steigern und vor allem stabilisieren. Wenn sie das schafft, dann kann sie eine wichtige Figur für den deutschen Tischtennis-Sport werden. Ich hoffe sehr, dass sie ihren eingeschlagenen Weg konsequent weitergeht. Aber klar: Das wird noch Zeit brauchen.

Sie waren vor allem in China berühmt, dort haben Sie einst bei einem Schönheits-Wettbewerb sogar David Beckham hinter sich gelassen. Was hat Ihre Frau dazu gesagt?

(Lacht) Wir haben beide darüber geschmunzelt. Gerade in dieser Phase war David Beckham natürlich eine riesige Nummer. Dass ich damals bei einer Wahl zum attraktivsten Sportler in China tatsächlich vor ihm gelandet bin, war schon surreal. Um ehrlich zu sein, war es mir sogar ein bisschen unangenehm.

Belastende Popularität?

War diese Popularität in Asien für Sie manchmal auch belastend?

Das war ein ziemlicher Spagat. Der Rummel in Asien war beeindruckend, aber auch anstrengend. Es gab Situationen, da brauchte ich tatsächlich Soldatenschutz, um sicher aus der Halle zu kommen. Trotzdem: Es waren auch wahnsinnig schöne Momente. Besonders, wenn bei einer WM auf einmal ein Grossteil der chinesischen Fans auf meiner Seite war. Das war Gänsehaut pur – und eigentlich kaum zu glauben in einem kommunistischen Land. Auf der anderen Seite hatte ich in Deutschland ein ruhigeres, normales Leben. Und das kam mir sehr entgegen, um aus dieser Glanz-und-Gloria-Welt rauszukommen. Ich bin ein zurückhaltender Typ, der nicht immer im Mittelpunkt stehen muss. Dieses normale Leben in Deutschland hat mir gutgetan.

Boll
Timo Boll 2006 umringt von Autogrammjägern. © imago/Martin Hoffmann

Gibt es etwas, das Sie rückblickend in Ihrer Karriere anders machen würden?

Wenn ich alte Videos anschaue, als ich 17, 18, 19 Jahre war, dann sehe ich mich manchmal an der Platte jammern, als es nicht so lief. Dafür hasse ich mich heute, das kann ich nicht sehen. Zum Glück habe ich das irgendwann selbst erkannt und abgestellt – aber ehrlich gesagt: Das hätte ruhig ein paar Jahre früher passieren können.

Trainer oder Funktionär zu werden, haben Sie ja ausgeschlossen. Warum eigentlich? Sie könnten dem Sport eine Menge zurückgeben…

Das stimmt. Aber Trainer zu sein – das wäre letztlich der gleiche Lebensstil wie in den letzten 30 Jahren. Und davon wollte ich erstmal bewusst Abstand nehmen. Vielleicht sehe es in ein paar Jahren anders. Aber aktuell kann ich mir das nicht vorstellen.

Und der Job als Funktionär ist auch nichts?

Das ist nicht mein Ding. Ich bin nicht der Typ, der ständig anecken oder seine Meinung unbedingt durchdrücken will. Es gab tatsächlich schon Angebote, in diese Richtung zu gehen, aber ich sehe mich da überhaupt nicht. Ich bin eher jemand, der sein Know-how einbringt, ohne ständig im Vordergrund zu stehen. Eher ein Berater, ein Botschafter für den Sport. Aber ein Funktionär, der in Gremien Entscheidungen durchboxen muss – das passt einfach nicht zu mir.

"Der 'Turnhallen-Mief' ist ein Stück weit verschwunden"

Wie sehen Sie denn aktuell den Status von Tischtennis in Deutschland – gerade im Vergleich zu früheren Jahren?

Der Vorteil für uns Tischtennisspieler war immer der riesige chinesische Markt. Früher war es in China hauptsächlich Volkssport – heute ist es unter jungen Leuten fast ein Lifestyle geworden. In Deutschland hat sich Tischtennis auch etwas weiterentwickelt. Der 'Turnhallen-Mief' ist ein Stück weit verschwunden. Trotzdem bleibt die Konkurrenz durch andere Sportarten riesig. Und klar ist auch: Tischtennis in Deutschland ist in seiner Struktur ähnlich zementiert wie Tischtennis in China. Das wird man nicht so leicht ändern. Wichtig ist, dass wir den Sport weiter Schritt für Schritt professionalisieren und gute junge Spieler herausbringen.

Machen Sie sich Sorgen um das deutsche Tischtennis? Oder wäre das übertrieben?

Ich würde nicht von Sorgen sprechen. Aber es wird generell immer schwieriger, so dominierend wie früher zu sein. Man braucht in jedem Turnier alles: Form, Tagesverfassung, ein bisschen Glück. Man müsste noch professioneller werden, besonders im Jugendbereich. In Amerika zum Beispiel ist der Schulsport viel stärker integriert und professionalisiert. Aber um so etwas hier zu etablieren, müsste man das ganze System komplett auf den Kopf stellen. Und da wäre ich keiner für – deshalb will ich ja auch kein Funktionär werden (lacht).

Über den Gesprächspartner:

  • Timo Boll hat im Tischtennis Massstäbe gesetzt. Er wurde bereits mit 21 Jahren die Nummer eins der Welt, gewann unter anderem vier Medaillen bei den Olympischen Spielen, neun Mal Edelmetall bei Weltmeisterschaften und 28 Medaillen bei Europameisterschaften, neben Siegen bei den Grand Finals, beim World Cup oder beim Europe Top 12 bzw. 16.