Im August nimmt Sylvie Geissler am bisher grössten Rennen ihres Lebens teil – an einem Tag läuft sie über 100 Kilometer, einmal rund um den Mont Blanc. Wir haben mit der Ultra-Trailrunnerin über ihren Lebenstraum gesprochen – und darüber, wie sie ihre zeitintensive Leidenschaft mit Beruf und Familie vereinbart.

Ein Interview

101 Kilometer, insgesamt über 6.000 Höhenmeter – und all das in maximal 26,5 Stunden: Der UTMB Chamonix CCC gehört zu den prestigeträchtigsten Rennen der Trailrunner-Szene. Vom franzözischen Courmayeur geht es einmal um den Mont Blanc bis nach Chamonix. Wer Glück hat, wird für das Rennen als Teilnehmer gelost, der Rest muss sich für die Veranstaltung am höchsten Berg der Alpen qualifiziert haben.

Was ist der UTMB?

  • Der Ultra-Trail du Mont-Blanc (UTMB) startete 2002 als Ultramarathon, der auf Trails 176 Kilometer rund um die Mont-Blanc-Gruppe führt. Mit den Jahren kamen weitere Rennen hinzu, seit 2006 auch der CCC, der von Courmayeur über Champex bis nach Chamonix führt und mit 101 Kilometern kürzer ist als das Original. Um an Rennen der UTMB-Serie teilnehmen zu können, müssen sich die Läuferinnen und Läufer vorher in anderen Rennen qualifiziert haben. Weil die Nachfrage mittlerweile so hoch ist, wurde zudem ein Losverfahren eingeführt.

Eine, die das geschafft hat, ist Sylvie Geissler. Die Ultra-Trailrunnerin erfüllt sich mit der Teilnahme einen grossen Traum. Vor dem Rennen ihres Lebens haben wir mit ihr über die Berge, das Alleinsein und den Kampf gegen innere Dämonen gesprochen.

Frau Geissler, einmal um den Mont Blanc – und das 101 Kilometer zu Fuss. Muss man verrückt sein, um so etwas zu tun?

Sylvie Geissler: Ich glaube, verrückt ist das falsche Wort. Es ist eine Leidenschaft, so ein Brennen, was man für das Ultralaufen in sich hat und was es einem zurückgibt. Ich habe schon immer eine extreme Leidenschaft für die Berge und diesen Gedanken gehabt, an einem Tag so viel zu sehen und zu erleben und 100 Kilometer lang einfach bei sich selbst sein zu können. Das ist für mich ein unglaubliches Lebens- und Freiheitsgefühl, was ich damit verbinde. Und ja, das stimmt – man muss auf alle Fälle sehr resilient und einfach gewillt sein, sein Leben ein Stück weit auch auf diesen Sport auszurichten.

So kam Geissler zum Trailrunning

Waren die Berge und dieses "für sich sein" auch ausschlaggebende Gründe dafür, warum Sie sich fürs Trailrunning entschieden haben? Sie hätten ja zum Beispiel auch Marathonläuferin werden können.

Ja, genau. Ich war tatsächlich noch nie eine Läuferin, auch wenn es sich immer komisch anhört. Die laufbaren Teile beim Ultralaufen sind für mich wirklich die grösste Herausforderung. Mein Mann und ich haben uns damals für einen StrongmanRun (Extrem-Hindernislauf, d. Red.) angemeldet und da waren 700 Höhenmeter dabei. Da haben wir gesagt, dass wir nicht einfach bei so einem Event mitmachen können, ohne davor mal bergauf gelaufen zu sein. Dann haben wir das mal ausprobiert, 2016 oder 2017, und dieses am Berg laufend unterwegs sein, hat uns dann gleich so gut gefallen, dass wir so ins Ultralaufen reingerutscht sind und eine Leidenschaft dafür entwickelt haben.

Was ist Ultra-Trailrunning?

  • Trailrunning ist eine bestimmte Form des Langstreckenlaufs, die nicht auf asphaltierten Strassen stattfindet. Seit 2015 erkannte der internationale Leichtathletik-Verband World Athletics Trailrunning als offizielle Disziplin an. Als Ultra-Trails werden Läufe bezeichnet, die länger als die Marathondistanz von 42,195 Kilometern sind.

Wenn Sie sagen, ein Teil der Strecke ist laufbar, bedeutet das, dass der Rest dann quasi bergauf geht?

Richtig, bergauf oder bergab. Bergab laufen ist für mich unglaublich schön. Ich bin nicht so gross und mache kleine Schritte, von daher bin ich da auch recht schnell unterwegs – gerade in felsigem Gelände. Bergauf, bergab, das ist absolut meins.

Jetzt haben Sie Ihren Mann gerade schon erwähnt. Sie sind also zusammen zu dem Sport gekommen. Er ist auch als Trailrunner aktiv. Wie wichtig ist es denn für Sie, dass der Partner bzw. die Partnerin auch diese Leidenschaft teilt, die man selbst hat?

Leidenschaft teilen heisst auch, die Leidenschaft zu verstehen. Einmal gehört das Verständnis dazu, dass man viel unterwegs ist, dass die Rennen eine gewisse Vorbereitung benötigen. Natürlich ist es dann umso schöner, wenn der Partner das teilt, weil man einfach wirklich viel am Berg unterwegs ist. Man muss sich Trainingszeiten rausnehmen. Sonntag ist bei uns immer "Long Run Day". Da ist unsere Tochter immer bei meinen Eltern und wir sind dann wirklich gemeinsam am Berg unterwegs. Das ist dann schon eine tolle Zweisamkeit, die man da miteinander verbringen kann.

Der UTMB, die Champions League der Trailrunner

Ihre Tochter ist vor zwei Jahren auf die Welt gekommen, neben ihrem zeitintensiven Sport sind sie ganz normal berufstätig. Familie, Sport, Beruf – wie bekommt man das alles geregelt, ohne, dass etwas zu kurz kommt?

Es ist tatsächlich eine Herausforderung. Ich bin von Haus aus ein sehr zielorientierter und strukturierter Mensch. Ich habe meine Wochen komplett durchgeplant: Neben der Arbeit auch das Training, sodass immer genug Zeit für meine Tochter da ist. Letztlich kann es nur dann gut funktionieren, wenn ich mich in dem Moment auf das fokussiere, was ich jetzt gerade tue. Man muss auch die Unterstützung von aussen annehmen. Meine Eltern sind da wirklich sehr engagiert. Sie unterstützen uns extrem, sind auch bei den Rennen immer mit dabei und schauen da auf Elfi. Aber man muss natürlich auch Abstriche machen.

Zum Beispiel?

Sowas wie am Wochenende gross Party machen oder jeden Tag essen gehen oder solche Dinge – die fallen dann natürlich weg, wobei sie für mich auch nicht so extrem relevant sind. Für mich hat es diese Zugehörigkeit zu einem Team, jetzt mit dem CRAFT Elite Run Team Germany, nochmal ein Stück weit leichter gemacht. Juli Brüning, die ebenfalls Mitglied ist, ist Ernährungswissenschaftlerin und macht jetzt zum Beispiel meine ganze Ernährungsplanung für die Rennen. Sie unterstützt mich auch bei der Vorbereitung auf die Rennen, dadurch bekomme ich mehr Freiheit und Zeit für mich.

Sie laufen am 29. August beim UTMB Chamonix CCC mit. Zuletzt sagten Sie in einem Video auf Social Media, mit der Qualifikation dafür haben Sie sich einen Traum erfüllt. Was bedeutet es Ihnen, bei diesem grossen Rennen starten zu dürfen?

Ich habe mir dahingehend einen grossen Traum erfüllt, weil das Event sozusagen unsere Champions League ist. Es gibt einen Lostopf – da kann man mit ganz viel Glück gezogen werden, damit man teilnehmen kann. Aber mein Traum war es nach der Schwangerschaft, dass ich mir das erarbeite, dass ich das durch mein eigenes Training schaffe, mich in einem Quali-Rennen direkt zu qualifizieren. Bei meinem zweiten grossen Rennen nach der Schwangerschaft, dem KAT100 in Fieberbrunn, habe ich das dann geschafft. Für mich ist das eine Motivation sondergleichen gewesen. Mein Mann hat bei dem Rennen in Chamonix schon mal mitgemacht und was dort für eine Stimmung ist, das kann man sich einfach nicht vorstellen.

"Vor dem Loslaufen habe ich sie noch gestillt und dann musste ich schauen, dass ich die Zeit ungefähr einhalte – an der Ziellinie habe ich sie dann wieder gestillt. Das war einfach der Wahnsinn."

Ultra-Trailrunnerin Sylvie Geissler über das erste Rennen nach der Geburt ihrer Tochter

Ist es bei einem Rennen schonmal gefährlich für Sie geworden?

Für mich jetzt tatsächlich nicht, weil ich schon immer in den Bergen unterwegs bin. Ich liebe technische Trails, also je felsiger es ist, umso besser ist es für mich. Ich glaube aber schon, dass das für den einen oder anderen eine grosse Herausforderung darstellt.

Und was war Ihre herausforderndste Situation?

Ich habe vor ein paar Jahren beim Transalpin-Run mitgemacht. Das ist ein Rennen über sieben Etappen und am dritten Tag bin ich umgeknickt und habe mir meinen Knöchel verstaucht. Ich wollte das aber unbedingt zu Ende laufen und bin vier Tage lang mit einem verstauchten Knöchel weitergelaufen. Das war mental eine riesige Herausforderung. Aber auch das war so ein Traum von mir, den ich mir einfach erfüllen wollte.

Gibt es noch ein Rennen, das Ihnen sonst besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ich habe tatsächlich zwei Rennen, die mir ganz besonders in Erinnerung geblieben sind. Einmal ist es das erste Rennen nach der Geburt meiner Tochter. Sie ist im Mai 2023 auf die Welt gekommen und im Oktober bin ich am Gardasee bei einem Rennen gelaufen. Vor dem Loslaufen habe ich sie noch gestillt und dann musste ich schauen, dass ich die Zeit ungefähr einhalte – an der Ziellinie habe ich sie dann wieder gestillt. Das war einfach der Wahnsinn. Das zweite Rennen war der KAT100, weil es mein allererstes Rennen für das Team war. Da war die Aufregung natürlich schon gross – dass es dann am Ende so erfolgreich war, das werde ich mit Sicherheit nie vergessen.

Alleine am Berg – im Kampf gegen die Dämonen

Was geht einem durch den Kopf, wenn man stundenlang – und teilweise völlig allein – auf dem Trail unterwegs ist?

Bei mir ist es so, dass ich mit Sicherheit die Hälfte der Zeit an nichts wirklich denke, sondern an das, was da gerade so vor mir liegt. Jetzt kommt die Kurve, jetzt geht es dann bergauf, jetzt geht es bergab. Die andere Hälfte oder ein Drittel der Zeit ist es so, dass man natürlich ein Stück weit mental kämpft. Dann kämpft man sich durch seine kleinen Dämonen durch, die da kommen.

Wie genau?

Ich schreibe mir vor dem Rennen immer auf, was denn alles für Gedanken kommen können und was da alles so passiert. Und die kommen dann in der Regel auch. Ich lege mir dann schon Antworten für mich im Kopf zurecht und diskutiere sozusagen mit mir selbst einen Teil der Zeit, um nicht zu negativ mit diesen herausfordernden Gedanken umzugehen. Einen anderen Teil der Zeit bin ich damit beschäftigt, mir vorzustellen, wie ich ins Ziel laufe, weil mich das unglaublich motiviert. Ich versuche mir diesen Zieleinlauf bildlich vorzustellen. Wenn es gar nicht mehr geht, fange ich zu zählen an. Ich zähle einfach ab eins los und irgendwann zähle ich dann wieder rückwärts. Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht ohne grossartige, spektakuläre Gedanken.

Sylvie Geissler
Hier läuft Geissler (r.) zusammen mit einer Teampartnerin – oft ist die Ultra-Trailrunnerin aber alleine am Berg unterwegs. © Hubert/HTNFilms

Jetzt sind Sie hauptberuflich nicht als Ultra-Trailrunnerin tätig. Aber könnte man theoretisch vom Trailrunning leben? Und wenn ja, was müsste man dafür alles tun?

In unserem Sport ist es tatsächlich so, dass sehr, sehr wenige davon leben können. Da müssen schon ganz viele Faktoren zusammentreffen. Ich kann nicht sagen, wie viele das in Deutschland sind. Es sind vielleicht drei, die davon leben können. Man kann auch nur dann davon leben, wenn man genügend Sponsoren hat. Was es für mich jetzt leichter gemacht hat, ist bei CRAFT zu sein, weil du dann ein Sponsoring rundherum bekommst. Du bekommst die Schuhe, die Kleidung, du hast jemanden für die Nutrition-Strategie an deiner Seite. Das macht es natürlich schon viel leichter. Ich brauche im Jahr 20 Paar Schuhe, wobei das bei mir gar nicht reicht. Man braucht ja für jedes Rennen den richtigen Schuh und dann hat man seine Lieblingsschuhe, die man sehr schnell aufbraucht.

Geisslers nächster Traum wartet schon

Jetzt haben wir schon öfter über das Team gesprochen. Bei den Rennen sind Sie jedoch häufig komplett auf sich allein gestellt. Warum ist es neben den schon genannten Punkten trotzdem wichtig für Sie, Teil eines Teams zu sein?

Für mich war das ein Traum, den ich mir erfüllen habe können, jetzt Teil des Teams zu sein. Wenn du in so einem Team bist, bedeutet das natürlich auch, dass da unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Stärken sind. Und von diesen Stärken kannst du faktisch profitieren. Was mich ausserdem vor allem angesprochen hat: Wir als Athleten werden an der Entwicklung der Produkte mit beteiligt. Wir können unmittelbar Feedback geben – zum Beispiel zu den Schuhen, die ja das A und O sind – und das hat für mich schon einen enormen Mehrwert.

Sylvie Geissler
Geissler ist als Teammitglied an der Entwicklung der Produkte mitbeteiligt. © Hubert/HTNFilms

Welche Charaktereigenschaften entwickelt oder stärkt man durchs Trailrunning?

Vor allem Durchhaltevermögen und auch die Frustrationstoleranz. Ich merke, dass ich viel resilienter bin – auch mit Blick auf die Arbeit zum Beispiel. Ausserdem Zielstrebigkeit: Wenn man seine selbst gesetzten Ziele nach und nach erreicht, ist es unglaublich, wie du auch deine Motivationsfähigkeit stärken kannst.

Man sollte immer einen Traum haben – welcher ist es, wenn Sie den CCC gelaufen sind?

Vielleicht ein noch etwas verrückterer. Um den Eiger gibt es den E250 – das sind 250 Kilometer und 18.000 Höhenmeter. Das muss man zu zweit oder zu dritt laufen und da ist auch sehr viel Selbstversorgung mit dabei. Dieses Rennen wäre mein nächster Traum.

Verwendete Quellen

Über die Gesprächspartnerin

  • Sylvie Geissler ist eine deutsche Ultra-Trailrunnerin, die für das CRAFT Elite Run Team Germany startet. Geissler ist Mutter einer zweijährigen Tochter und im Management einer Versicherung tätig. Ende August startet sie beim UTMB Chamonix CCC – die Strecke verläuft einmal um den Mont Blanc, den höchsten Berg der Alpen.